Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Titel: Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vlada Urosevic
Vom Netzwerk:
herrschte bereits eine für diese Tages- und Jahreszeit zu früh hereingebrochene Dämmerung. Die Konturen wurden unscharf, die Gesten wirkten zweideutig, der Ausdruck auf den Gesichtern ließ sich nur schwer bestimmen, die Kleiderstoffe vermischten sich mit den Schatten, und nur Zähne, Augäpfel und Fingernägel leuchteten weiß wie Mondlicht. Muto gurrte und brummte, Fatima zwitscherte fröhlich; sie drehten an den Kurbeln der Instrumente, fügten Drähte zusammen, näherten die Pole einander an. Die Stanniolstückchen in den Elektroskopen dehnten sich aus, das Franklinsche Rad drehte sich, die Leidener Flaschen leerten sich, die elektrischen Klingeln tönten und durch die Aula zuckten kleine lila Blitze.
    Einen Moment lang konnten wir ihre entzückten Gesichter erkennen, bevor alles wieder im Halbdunkel versank; auf den Skalen der Amperemeter zitterten die Zeiger, unter der Einwirkung von Wechselstrom vibrierte der Thomsonsche Ring, durch die Glasröhren voller Quecksilberdampf zuckten blasslila Reflexe, die Kathodenröhren mit den metallisch leuchtenden Blitzen fluoreszierten mit grünem Schein. Bisweilen schien es uns, als ob Fatima und Muto einander streichelten, als ob seine Hand über die ihre striche, doch im nächsten Moment begriffen wir, dass er den Rumkorff-Induktor in Gang setzte, dass er die Kondensatoren einander annäherte, die Elektroden festzog, dass er sich bückte, umden Zeiger auf der Skala des Voltmeters besser erkennen zu können.
    Unter ihren Händen glückten die Experimente, für deren Misslingen im Unterricht die Lehrer sich unzählige Begründungen ausgedacht hatten. Wie bei einer Jahrmarktsgaukelei funktionierte alles, ohne dass man erkennen konnte, wie; die komplexen Apparaturen verhielten sich wie Spielzeuge. Befreit von der Tyrannei der Gesetzmäßigkeit, von der idiotischen Diktatur der Kausalität, zeigten sich die physikalischen Erscheinungen wie ein Deus ex Machina, wie ein zerzaustes Springteufelchen. Wir konnten beinahe spüren, wie sich die komplizierten Formeln vor unseren Augen auflösten: Sie verloren sich wie durchscheinende und ausgehungerte Mottenschwärme, die beim großen Frühjahrsputz des Hauses aus dem Kleiderschrank vertrieben wurden. Als spielten sie ein Kinderspiel für Erstklässler, näherten Fatima und Muto die Kohlestäbchen einander an, aus denen dann der Voltaische Bogen in all seiner Erhabenheit aufblitzte. Umgeben von elektrischen Entladungen, von Funken und kleinen Detonationen, vom Geruch nach Ozon und verbranntem Gummi, waren sie falsche Zauberer, die sich über ihre eigene Magie lustig machten. »Halt mal«, rief Fatima. Zwischen ihren Gesichtern leuchtete der Schein eines kleinen Blitzes auf, Muto stieß dunkle, kehlige Schreie aus.
    Wir standen oben auf der Galerie, zwischen Stühlen und Tischen, auf denen die Gipsköpfe von Hermes, Aphrodite und Moses in einem Durcheinander herumlagen, und lehnten an Vitrinenschränken, in denen unter einer Staubschicht alles Mögliche in einem heillosen Wirrwarr stand: Feldvogeleier, Schaukästen mit aufgespießten Schmetterlingen, Durchschnittevon versteinerten Ammoniten, ausgestopfte Nagetiere, deren Fell sich lichtete, Kristalle, Mineralien, Platten aus verschiedenen Metallen, in die die Namen der Minen geprägt waren, aus denen sie stammten, Modelle von Kraftwerken, Reptilienskelette, Tintenfässer in der Form artesischer Brunnen, Modelle innerer Organe, kaputte Mikroskope, Kompasse, Schildkrötenpanzer, reliefierte Mondgloben, deren eine Seite schwarz war, eine Sammlung alter Münzen, eine vergilbte Fotografie von der feierlichen Einweihung des Gymnasiums, eine präparierte Fledermaus und ein Schwertfischhorn – wie dies in die Sammlung der Schule gelangt war, wusste niemand. Ich hielt Emilia an der Hand. So standen wir im immer dichter werdenden Halbdunkel und versuchten, die nur halb verständliche Szene, die sich uns darbot, zu durchdringen.
    Unten schienen sich Fatima und Muto zwischen dem Aufflackern der Neonröhren und dem springenden Funken der Leidener Flaschen zu küssen und zu streicheln; aber schon im nächsten Augenblick beugten sie sich im Schein der Lichter, die von den Platten des Hertzschen Oszillators reflektiert wurden, über den Faradayschen Zylinder, dessen Aluminiumblättchen sich durch die Berührung mit dem elektrischen Wind aufrichteten. Verzaubert und fasziniert drehten sie das Stroboskop und betrachteten versunken die lebhaften Bilder, die sich nur ihnen zeigten. Dann, als das Licht

Weitere Kostenlose Bücher