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Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Titel: Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vlada Urosevic
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Er schickte sich an, etwas zu sagen, sein Mund stand offen, als wollte er zu einer langen, pathetischen Rede ansetzen, doch dann rief er nur: »Vperjod, vorwärts!«, stieß sich vom Fensterbrett ab und stürzte sich in den Abgrund.
    Auf dieser Seite des Gymnasiums fiel ein steiler, von Brennnesseln und Dornengestrüpp bedeckter Abhang zur Stadt hin ab. An der Unterkante des Fensters waren undeutlich die Dächer der Stadt zu erkennen.
    Es schien, als überschlage sich der Lehrer unten in der Tiefe, doch schon im nächsten Moment sahen wir Dunaevski vor dem schwarzen Hintergrund des Himmels, wie er mit weit ausgebreitetem Lodenmantel über die Dächer flog. In der Aula war ein kurzer Applaus zu hören.
    Die übrigen Lehrer drängten sich um das weit offen stehende Fenster und versuchten, den Flug Dunaevskis zu verfolgen. Dann stieg Serbezovski auf das Fensterbrett. Er war elegant und hatte trotz seines Hinkebeins Sinn für eine schöne Pose.
    »Ihr werdet euch umbringen, ach Gott, ihr werdet euch den Hals brechen!«, jammerte Fatima und streckte ihre Hände gegen jeden Lehrer einzeln aus. Doch die wichen ihr geschickt aus und halfen einander unbekümmert, auf das Fensterbrett zu steigen. Sie reichten sich die Hände und lächelten dabei liebenswürdig, machten höfliche Handbewegungen, um einander den Vortritt zu lassen, verbeugten sich freundlich. Waren sie erst einmal auf dem Fensterbrett, schwankten sie unbeholfen, suchten mit ausgebreiteten Armen das Gleichgewicht, kippten dann und flogen los.
    Meine Cousine Emilia und ich sahen ihnen zu, wie sie sich entfernten und immer kleiner wurden. Einige von ihnen hatten die Regenschirme geöffnet. Plötzlich erinnerten sie an Fledermäuse.
    Muto klatschte ein paar Mal freudig in die Hände und stieß unverständliche Laute aus.
    Am anderen Fenster standen der Pedell Memed und seine Frau Fatima. »Du hättest sie nicht fliegen lassen dürfen«, sagte Fatima. »Was kann denn ich dafür«, sagte Memed müde. »Die wissen schon, was sie tun.« Dann sah er Muto an. »Aber ihr beiden …«
    Doch er beendete den Satz nicht. In diesem Moment wurde die Tür zur Aula wieder aufgestoßen. Opa Simon kam hereingestürzt, ganz aufgelöst und außer Atem, das Haar voller Distelsamen.
    »Wo sind die Lehrer?«, rief er. »Schnell, sagt mir, wo sie sind!«
    »Sie sind nicht da«, sagte Memed ruhig. »Im Sommer sind keine Lehrer da. Im Sommer sind Ferien. Im Sommer gibt es keinen Unterricht. Im Sommer sind nur wir im Gymnasium.«
    Opa Simon lief hin und her durch die Aula, als suche er etwas. Dann ging er zum Fenster und betrachtete eingehend das Fensterbrett.
    »Die sind doch verrückt«, sagte er. »Das Barometer ist gefallen. Sie hätten nicht losfliegen sollen.«
    Fatima brach plötzlich in Tränen aus. »Ich hab ihnen ja gesagt …«, begann sie. »Es reicht«, unterbrach sie Memed. »Es waren keine Lehrer da.«
    »Das war ein Fehler«, sagte Opa Simon. »Es wird einen schrecklichen Sturm geben …«
    Und wie als Antwort auf seine Worte packte die erste Windböe das große Fenster, das noch immer offen stand, und schlug es nach einem verzweifelt langen Augenblick, in dem es Memed und Opa Simon nicht mehr gelang, es festzuhalten, heftig gegen die Wand. Die Scheibe zersprang in unzählige Scherben. Durch die Fensteröffnung trug der Wind Löwenzahnsamen, Staub und die ersten großen Regentropfen herein.
    Beinahe gleichzeitig schrie Fatima auf und streckte ihren Zeigefinger aus: Das riesige Barometer – der Stolz des Gymnasiums, von dem man sagte, es sei von der Guadalquivir geborgen worden, als sie im Thessaloniker Hafen versank – schwankte an der Wand. Der Schlag des Fensters hatte es aus dem Gleichgewicht gebracht, und nun neigte es sich gefährlich. Memed hob vergebens seine Hände. Der Nagel, an demes hing, gab nach, es fiel herunter und zerbrach mit einem fürchterlichen Krach.
    Draußen leuchtete ein greller Blitz auf. Im blauen Licht, von dem sich die Lippen zusammenzogen und es in den Zähnen kribbelte, sahen wir, wie sich Opa Simon an den Kopf griff, wie Memed kämpfte, um die Fenster zu schließen, wie Muto die Arme ausbreitete und wie Fatima vor der Tafel kauerte. Dann dröhnte ein Donnerschlag: Sein Krachen spaltete sich auf und ging durch alle Gegenstände wie ein heftiges, fiebriges Beben. Der Strom fiel aus.
    In der Finsternis da unten war alles stumm. Man hörte nur das leise Gebrabbel Mutos, der sich durch die Dunkelheit bewegte. Seine nicht ausgeformten, kehligen

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