Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
auf.
Die an das Gymnasium angrenzenden Häuser waren alt, heruntergekommen, grau. Keines von ihnen war das geheimnisvolle Haus, das wir in den Nebeltagen betreten hatten.
In jenem Winter streiften wir auch durch das alte Basarviertel. Wir spähten in die Barbierstuben, wo neben Käfigen mit Kanarienvögeln und Öldrucken, die Szenen aus »Othello« darstellten, ungelenke Stiche von Schiffen hingen. Auf ihnen sah man den Untergang der Titanic, die Explosion an Bord der Guadalquivir, die Versenkung der Lusitania. Dort blätterten die seltenen Kunden in zerlesenen Büchern, fuhren mit dem Zeigefinger durch irgendwelche Listen und murmelten Zahlen vor sich hin: Bruttoregistertonnen und geografische Breiten. Meine Cousine Emilia behauptete, das seien Kataloge mit verschollenen Schiffen, die der Triester Lloyd jedes Jahr herausgebe, doch wenn wir in eine Barbierstube traten, stellten sich diese rätselhaften Druckwerke rasch als halb gelöste Kreuzworträtsel oder als speckige Fotografien aus pornografischen Zeitschriften heraus. Die meiste Zeit verbrachten wir vor der Kupferschmiede Tišina, wo die Straßen derBettdeckenmacher und der Blechschmiede abzweigten. Hier, im matten Glanz des Kupfers, hallten bis in die späten Nachtstunden die Hammerschläge der Handwerker. Ein rundes Kupfergefäß mit Rohren, die aus dem oberen Teil kamen und sich dann sofort nach unten bogen, zog immer wieder unsere Aufmerksamkeit auf sich. Das Gefäß hatte eine höchst ungewöhnliche Form. Alle meinten, es handle sich um einen außergewöhnlich großen Kessel zum Brennen von Schnaps, aber wir bezweifelten das. Es war vielmehr – da waren wir uns ganz sicher – ein Schiffskessel, der zwar vielleicht primitiv wirken mochte, aber auf jeden Fall nach gut verwahrten und eifersüchtig gehüteten Plänen gefertigt worden war.
Wenn Opa Simon aufbrach und seine zu einer dicken Rolle gewickelten Landkarten dabeihatte, folgten wir ihm auf seinen langen und geheimnisvollen Gängen durch das Basarviertel. Kam er ohne sie aus einem Laden zurück, gingen wir kurz darauf mit der Ausrede, wir suchten unseren Großvater, selbst hinein. Doch der Verkäufer zeigte uns dann immer nur ein Bündel Altpapier, das Opa ihm angeblich kurz zuvor verkauft hatte. Vor der Tür eines Büros, das nie jemand betrat und unter dessen halb verblichenem Schild »Advokat« ein kleiner vergilbter Zettel mit der ergänzenden Aufschrift »Seespeditions-Vertretung« hing, blieben wir unentschlossen stehen. Wen mochte dieser Advokat vertreten? Und von wo liefen die Schiffe der Seespedition aus? Uns schien, als würde sich alles nach und nach aufklären, wenn wir nur den Anfangsknoten fänden, doch der hielt sich versteckt, und schließlich löste sich das Rätsel in Luft auf – wie das Tuten des Schiffes.
***
Im Sommer wurden meine Klassenkameraden und ich zur Sommerfrische ans Meer gebracht. Ich war blutarm, mit durchscheinenden Ohren, ohne Appetit. Sie schoren uns die Köpfe kahl; wie große Fledermäuse sahen wir aus. Wir wurden in einem katholischen Kloster untergebracht, das für die Bedürfnisse des Volkes beschlagnahmt worden war, und mit Konserven aus amerikanischen Hilfspaketen ernährt. Eines Tages machten wir einen Ausflug zum Hafen. Dort lag am Kai vertäut ein großes Schiff namens Skopje.
Man ließ uns an Bord, um es zu besichtigen. Dass es den Namen unserer Stadt trug, fanden wir aufregend. Der Kapitän war sehr liebenswürdig, erklärte alles und erzählte uns, was er auf seinen Fahrten über ferne Meere erlebt hatte. Dann stiegen wir in den Maschinenraum hinunter und gingen schließlich auf die Brücke. Ich erkannte den Raum sofort wieder. Es war derselbe, in den meine Cousine Emilia und ich damals geraten waren. Alles war gleich: die Karten, die Instrumente, die Wände, sogar die Anordnung der Türen. Der Erste Offizier erläuterte uns, wie man das Azimut zum Navigieren benutzt und die eigene Position mithilfe der Sterne feststellt. Als ich mich über die Schultern der anderen beugte, bemerkte ich das silberne Täschchen meiner Cousine Emilia über dem Tisch, auf dem allerlei Karten herumlagen. Es war eindeutig ihr Täschchen, verziert mit der Initiale E – der senkrechte Strich nicht ganz durchgezogen –, das Kettchen, das als Griff diente, war an der gleichen Stelle gerissen und dann wieder gelötet worden, und in der linken Ecke fehlten ein paar Kettenglieder. Das Silber war schwärzlich angelaufen, es sah genauso aus wie damals, als Emilia das
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