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Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Titel: Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vlada Urosevic
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Täschchen beiseitegelegt hatte, um leichter in den Karten herumstöbern zu können. »Was istdenn das da?«, fragte ich und bemühte mich um einen gleichgültigen Tonfall. »Das hier?«, fragte der Erste Offizier und tippte an einen getönten Spiegel mit einem blitzenden Messingrahmen, auf dem viele Unterteilungen, Winkel und Gradangaben zu sehen waren. »Nein«, sagte ich, »das da drüben.« »Ach so«, sagte der Offizier, »das ist ein Damentäschchen, nichts Besonderes. Wahrscheinlich hat es irgendeine Schülerin, die das Schiff bei einem Ausflug besucht hat, hier vergessen. Zuerst haben wir es aufgehoben, weil wir dachten, sie würde zurückkommen. Und jetzt behalten wir es weiter hier, weil wir denken, dass es uns Glück bringt.« Unzufriedenes Murren erhob sich gegen mich. »So ein Schwachkopf«, sagte eine Stimme hinter mir. »Immer fragt er so einen Blödsinn.« Dann wurden wir in die Stadt geführt, um uns eine winzige Sphinx aus schwarzem Stein anzuschauen, die vor sehr langer Zeit aus Ägypten geholt worden war, sowie das in eine Kirche umgewandelte Grabmal eines römischen Kaisers und das Denkmal eines Mönchs, der drohend den Zeigefinger hob. Ich war mit meinen Gedanken woanders, nahm nichts wahr, die anderen rempelten mich dauernd an. Und die ganze Zeit über hatte ich das Gefühl, dass ich irgendetwas zu fragen vergessen hatte.
    Auf der Rückfahrt im Autobus fiel es mir dann ein: Ich hatte vergessen zu fragen, wo sich das Schiff gerade befunden hatte, als das kleine silberne Täschchen meiner Cousine Emilia darin zurückgeblieben war.
    ***
    Hört auch ihr an nebligen Novemberabenden manchmal das Schiff? Was sagt es euch? Überzeugt es euch davon, dass dasweit Entfernte manchmal ganz nah ist? Habt auch ihr dann das Gefühl, dass wir auf dem Meer treiben? Und dass wir schon im nächsten Augenblick das Unbekannte erreichen werden, dessen Umrisse wir bereits erahnen?

S OMMERGEWITTER
    »Ihr werdet alle von der Schule fliegen«, schrien die Lehrer als Erwiderung auf unsere Scherze, auf Unfug und unbedachte Äußerungen. Sie drohten damit, wenn sie uns dabei erwischt hatten, wie wir in den versteckten Winkeln der Korridore rauchten, wie wir die Treppengeländer hinunterrutschten, wie wir alte pornografische Postkarten im Fotolabor der Schule vervielfältigten, wie wir in den Pausen ihre Gesten und Phrasen imitierten. Wir lachten nur darüber, da wir wussten, dass nichts dahintersteckte, dass sie diese Drohung schon wiederholten, seitdem das Gymnasium existierte. »Ihr werdet alle fliegen«, rief der Lehrer Dunaevski und hob seinen vom Nikotin gelb verfärbten Zeigefinger. »Alle, alle«, wiederholten die Lehrer Argirovski, Serbezovski, Kolemiševski. Wie hätten wir damals ahnen sollen, was eigentlich hinter diesen Worten steckte.
    ***
    In den Sommermonaten, wenn der Staub sich weiß auf Skopjes Dächer legte, wenn auf den brachliegenden Grundstücken hinter dem Eisenbahnerviertel riesige Disteln blühten, deren violette Blüten wie Schachköniginnen aussahen, wenndie Kutscher ihre staubverkrusteten Droschken zum Vardar hinunterfuhren, um sie zu waschen, und wenn die Eisverkäufer ihre kleinen, mit Vorhängen versehenen Wägelchen durch die leeren Straßen schoben, dann lag das Gymnasium gewissermaßen im Abseits, weitab von unseren Wegen. Wir gingen nicht daran vorbei und somit existierte es in unserer Vorstellung von der Stadt praktisch nicht mehr. Dieser Ort – der kleine Platz, der im Schatten der Wildkastanien auf einem Hügel über der Stadt lag, der Haupteingang mit dem großen schmiedeeisernen Tor, das niemals geöffnet wurde, die gelben Mauern des Gymnasiums – wurde zu einem blinden Fleck mit verblichener Oberfläche, über den unser Gedächtnis keinerlei Macht besaß. In der toten, schläfrigen Zeit zwischen den Wiederholungsprüfungen und dem Beginn des neuen Schuljahres versank das Gymnasium in der süßen Melasse der Sorglosigkeit, in der Konfitüre des Faulenzens, im Sirup der langen Stunden der Sommernachmittage. Verlassen lag es da, Staub auf den Bänken und tote, vertrocknete Fliegen auf den Fensterbrettern, als hätte es sich in einem separaten Zeitabschnitt verloren, als wäre es aus dem Alltag ausgeschlossen und schmölze nun in der erhitzten Luft dahin bis zu seinem völligen Verschwinden.
    Umso größer war an jenem Abend unsere Überraschung, als wir bemerkten, wie es sich in der Dämmerung massiv und solide über den schweren, dunkelgrünen Kugeln der Wildkastanien erhob. Meine

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