Meine Frau will einen Garten
wie der junge Harry Potter. Er will einen Garten, damit wir nie mehr Ausflüge machen müssen. Ausflüge stressen ihn. Weil wir dann packen, und er muss sich schnell anziehen. Weil wir dann die Fahrräder holen, und er muss schnell seine Brille suchen. Weil wir dann schnell die Treppe runtergehen, und er muss auch schnell die Treppe runtergehen. Weil wir dann in den Biergarten radeln, und er muss so unendlich viele interessante Dinge auf dem Weg dorthin unentdeckt lassen.
Ließe man ihn machen beziehungsweise ruhen, würde er etwa viereinhalb Tage für die Strecke brauchen, die wir in zwanzig Minuten zurücklegen. Deshalb wünscht er sich einen Garten. Er könnte dann endlich mal in aller Ruhe Schnecken studieren, die er so interessant und vielleicht auch seelenverwandt findet.
Anton ist das langsamste Kind der Welt. Er lernt gerade das Lesen. Er ist sehr intelligent, aber er liest lieber sehr langsam. Warum, weiß ich nicht. Er ist jetzt beim »A«, wenn seine Entwicklung weiter so wie bisher verläuft, wird er, schätze ich, in achtzig Jahren zum »C« kommen. Mein Sohn wäre 86 Jahre alt und hätte noch nie etwas vom »D« gehört.
Anton ist der größte Trödler unter der Sonne. Er denkt in Jahrmilliarden. In Begriffen der Ewigkeit. Er
lässt sich nicht drängeln. Sein definitiver Lieblingssatz lautet: »Warte doch mal.«
Wann immer ich ihn Richtung Schule zerre, schubse, schiebe, einfach weil wir immer so spät dran sind und ich es immer so verdammt eilig habe, bleibt er wie festgeschraubt stehen, sagt: »Warte doch mal« und findet zum wiederholten Mal das Klingelschild an unserem Haus in der Ismaninger Straße interessant.
Mein Sohn ist eine Art John Franklin der Gegenwart. Das ist der Junge aus Sten Nadolnys Roman »Die Entdeckung der Langsamkeit«. Gegen den allerersten Satz darin (»John Franklin war schon zehn Jahre alt und noch immer so langsam, dass er keinen Ball fangen konnte«) würde ich jederzeit eintausend allerletzte Hemingway-Sätze eintauschen. Karl Valentin hat einmal geschrieben: »Zuerst wartete ich langsam, dann immer schneller und schneller.« Im Warten ist Anton der Schnellste. Ich liebe ihn sehr dafür.
Schon deshalb muss ich über einen Garten nachdenken: Damit Anton seinen Aktionsradius endlich mal über sein Zimmer hinaus erweitert. Einmal hat er Pia gefragt, was ich, sein Papa, am liebsten machen würde, als Hobby sozusagen. Pia sagte zu Anton: »Dein Vater schläft am liebsten.« Anton, glücklich: »Ich auch.« Pia war sehr erschrocken.
Man hat einmal gemessen oder irgendwie nachgerechnet, wie, weiß ich nicht, dass die Kinder früherer Generationen einen größeren Aktionsradius als heutige
Kinder hatten. Radius heißt: der Weg zum Bolzplatz, zum Badesee, das Gebiet eben, in dem man herumstreicht. Die Kinder früher kamen weiter herum. Das läge daran, dass wir heute so viel Angst um unsere Kinder hätten.
Neu ist das nicht. Ein Pädagoge namens Janusz Korczak hat einmal gesagt: »Aus Furcht, der Tod könnte uns das Kind entreißen, entziehen wir es dem Leben.«
Ein Garten würde für Anton bedeuten, dass er seinen Aktionsradius in einem für ihn gigantischen Entwicklungsschub bis zum Gartenzaun erweitern könnte. Wir hätten beide was vom Garten. Er einige Quadratmeter Welt - und wir: die Sicherheit des Gartenzauns. Sagt Pia. Ich denke darüber nach.
Mein zweitgeborener Sohn Max will ebenfalls einen Garten - zum Verwüsten. Max ist das Gegenteil von Anton. Er ist der Hooligan der Familie und braucht dringend Bäume und Sträucher zum Austoben. Dazu Rutsche und Planschbecken und Karussell. Im Gartenhaus, plant Pia, kriegt Max, der Hool, einen Boxsack. Und im Keller ein Schlagzeug. Wie ich Max einschätze, reichen solche Energieabsorptionsanlagen bis zu seinem vierten Lebensjahr, also maximal noch ein Jahr.
Meine zuallererstgeborene Tochter Julia will einen Garten für ihre Meerschweinchen, die Schweini und Poldi heißen, in unserer Wohnung auf dem Balkon leben und gar nicht wissen, was das denn sein soll: ein Stück Grün, das kein Salatblatt ist. Einmal ist Julia zu
Freunden eingeladen, zu einem Kindergeburtstag. Der Vater dieses Kindes ruft mich an. Eigentlich soll er Julia abends wieder zu uns bringen, aber, sagt er am Telefon, »sie will nicht raus«.
»Will wo nicht raus?«
»Raus aus dem Garten. Genauer: raus aus dem Hasenstall im Garten. Sie sagt, sie will auch einen Garten. Du und deine Stadtwohnung!«
Pia, die mitgehört hat, sagt: »Na bitte.«
Das
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