Meine Freundin, der Guru und ich
Teilaufgabe 1 – gehen Sie in die dritte Welt und überleben Sie dort. Pauken, Interesse, Verstand oder Einfühlungsvermögen nicht erforderlich.«
Der Typ war einfach unglaublich.
»Hören Sie mal, Sie wissen überhaupt nichts über mich. Sie wissen nicht, warum ich hier bin. Sie wissen nicht, was ich denke. Sie interessieren sich kein Stück dafür, aus welchen Gründen ich. hierhergekommen bin und was es mir bedeutet. Deshalb … deshalb haben Sie auch überhaupt kein Recht, irgendwelche … Urteile über … mich und meinen Charakter zu fällen. Okay?«
Er nickte, immer noch lächelnd. »Du hast vollkommen recht. Ich weiß überhaupt nichts über dich. Rein gar nichts. Und trotzdem tauch ich hier einfach auf und fälle so einfach mir nichts, dir nichts ein Urteil über deinen Charakter. Schon ein starkes Stück.«
Er sah mich forschend an. Ich wußte nicht recht, worauf er hinauswollte, deshalb versuchte ich dagegenzuhalten und starrte zurück.
»Du hast vollkommen recht. Ich bin total ignorant, und trotzdem komm ich hierher, setz mich neben dich, verbring ein paar flüchtige Augenblicke in deiner Gesellschaft und gehe dann wieder fort, in dem Gefühl, was über dich erfahren zu haben. Das ist wirklich der Gipfel. Ich hätte gar nicht hierherkommen dürfen. Wenn ich mich schon nicht für dich interessiere, hätte ich auch nicht deine Zeit in Anspruch nehmen dürfen.«
»Ach, daher weht der Wind. Sehr schlau, muß ich schon sagen.« Ich sah weg und versuchte ihn zu ignorieren.
Die Leute entlang den Gleisen quatschten und rauchten immer noch, und es gab keine Anzeichen dafür, daß der Zug in absehbarer Zeit weiterfahren würde. Auch wenn ich mich mit dem Journalisten nicht gerade auf Anhieb gut verstanden hatte, beschloß ich auszuharren. Ich war noch nicht wieder bereit, allein zu sein.
»Vielleicht mache ich einen Artikel über dich«, sagte er.
»Was?«
»Vielleicht schreibe ich was über dich.«
»Über mich? Was haben Sie über mich schon groß zu sagen?«
»Weiß noch nicht genau. Erzähl doch mal – was machst du so den ganzen Tag?«
»Was ich mache?«
»Ja, woraus besteht ein durchschnittlicher Tag bei dir?«
»Wollen Sie mich verarschen?«
»Nein, ich bin nur neugierig.«
Ich warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. »Na ja – ich bin halt unterwegs. Mit dem Rucksack.«
»Aber was machst du so den ganzen Tag lang? Wie kommt es, daß du dich nicht langweilst?«
»Langweilen? Ich könnt mich hier nie langweilen.«
»Trotzdem, was machst du, überall?«
Er schien aufrichtig interessiert.
»Na ja, man kommt halt an, sucht sich ein Hotel, hängt dort ein bißchen ab, schaut sich ein paar Tage die Stadt an, ißt was, liest, schläft, redet mit den anderen Reisenden, überlegt sich, wo man als nächstes hinfährt, und dann – wissen Sie – ist es ein ziemlicher Akt, die Fahrkarten für die Weiterfahrt zu organisieren, also bereitet man sich geistig darauf vor, beißt in den sauren Apfel, stellt sich den ganzen Morgen für Fahrkarten an, und am nächsten Tag geht's dann weiter.«
»Aha. Die größte Herausforderung besteht also an jedem Ort darin, sich die Fahrkarten zu besorgen, um an den nächsten Ort zu gelangen?«
»Nein, das habe ich nicht gesagt.«
»Doch.«
»Hören Sie – vergessen Sie's einfach. Sie sind anscheinend eh nur daran interessiert, mich zu verarschen, also sehe ich nicht ein, warum ich Ihnen dabei helfen soll, Ihre bescheuerte kleine Reportage zu schreiben. Da müssen Sie sich schon einen Dümmeren suchen.«
»Schon in Ordnung. Ich hab bereits mehr als genug Material beieinander.«
»Was denn zum Beispiel? Was wollen Sie denn über mich schreiben?«
»Ich denke … irgendwie was in der Richtung, daß es heute nicht mehr die Hippies sind, die in spiritueller Mission hierherkommen, sondern nur noch Schwachköpfe auf Elendstourismus-Abenteuerurlaub. Der zentrale Punkt müßte dann sein, daß es heutzutage keinen Akt der Rebellion mehr darstellt, nach Indien zu gehen, sondern nur eine Art Konformitätszwang für Mittelklasse-Kids, die etwas für ihren Lebenslauf brauchen, das ein bißchen nach Eigeninitiative aussieht. Die ganzen großen Unternehmen wollen doch heutzutage Roboter mit Eigeninitiative, und da ist eine Reise in die dritte Welt als vorgehaltener Reifen, durch den man dann springt, ideal. Ihr kommt hierher und klammert euch aneinander, als wärt ihr auf irgend so einem erweiterten Beziehungs-Workshop für Manager in Epping Forest. Und dann könnt ihr,
Weitere Kostenlose Bücher