Meine Freundin, der Guru und ich
mir gelang, eine Fahrkarte zur Weiterfahrt zu ergattern – letztendlich unter dem Vorwand, daß meine Frau kurz davorstand, in einem Krankenhaus in Bombay ein Kind zur Welt zu bringen. Es war schon lange nach Einbruch der Dunkelheit, als sich der Zug schließlich in Bewegung setzte. Ich fühlte mich zerschlagen und kletterte daher, gleich nachdem wir abgefahren waren, rauf auf die oberste Liege und versuchte zu vergessen, wo ich war. Normalerweise ließ ich meinen Rucksack unter dem untersten Bett, aber da ich hier niemandem trauen konnte, benutzte ich ihn als Kopfkissen – die einzige Möglichkeit, sicherzustellen, daß ich nicht bestohlen wurde. Dadurch standen meine Füße am Bettende etwas hervor, was zur Folge hatte, daß die meisten Leute, die in unserem Wagen auf und ab liefen, eins gegen den Kopf bekamen. Ein paar von ihnen wurden ein bißchen grätig deswegen und versuchten mich dazu zu bewegen, meinen Rucksack woanders hinzutun, aber ich stellte mich blöd oder schlafend oder beides.
Während ich eindöste, erinnerte ich mich vage daran, daß mir mal irgend jemand erzählt hatte, man solle immer mit gekreuzten Beinen dasitzen, weil es eine tödliche Beleidigung für einen Hindu ist, wenn man ihm seine Fußsohlen zeigt. Ich nahm an, das könnte etwas damit zu tun haben, daß sie nicht besonders scharf auf Leute sind, die sich ihre verschwitzen Socken an ihrer Stirn abwischen. Also unternahm ich einen symbolischen Versuch, mich zusammenzurollen. Schließlich wäre es ziemlich blödsinnig gewesen, sich lynchen zu lassen, nur weil man zu vermeiden versuchte, ausgeraubt zu werden.
Ich wachte im Morgengrauen auf und machte mich kurz auf die Suche nach anderen Rucksackreisenden im Zug, konnte aber keine entdecken. Ich war nicht in der Stimmung, mich mit Indern zu unterhalten, und verbrachte daher den Morgen überwiegend damit, mich in meiner Koje zu verstecken und mich einsam und deprimiert zu fühlen.
Ungefähr zur Mittagszeit hielt der Zug irgendwo mitten in der Pampa an. Nach einer Weile begannen die Leute auszusteigen. Ich schwang mich von meinem Bett runter und folgte der Menge nach draußen. Wir befanden uns auf einem Bahndamm, der sich über einem Sumpf erhob. Neben uns war noch ein anderes Gleis. Ich dachte erst, die Leute stiegen aus, um in Erfahrung zu bringen, was los war, aber es stellte sich heraus, daß sich alle erst mal streckten und die Beine vertraten, rauchten, quatschten oder pißten. Ich wanderte ein wenig herum. Ein paar Leute lächelten mich an und winkten mir zu. Ich winkte zurück, versuchte aber Gespräche zu vermeiden, weil es jedesmal wieder auf diese »Hallo-wie-ist-Ihr-werter-Name-wo-kommst-du-her-bist-du-verheiratet?«-Scheiße hinauslief, auf die ich absolut keinen Bock mehr hatte.
Dann erspähte ich nach ein paar Minuten einen anderen Weißen, der am vorderen Ende des Zuges in der Nähe der 1. Klasse auf den Gleisen saß und in meine Richtung sah. Gott sei Dank! Endlich jemand, mit dem ich reden konnte.
Vor Freude hüpfte ich fast auf der Stelle und winkte ihm eifrig zu. Obwohl er meinen Gruß gesehen haben mußte, nahm er mich nicht zur Kenntnis, wandte sich vielmehr ab und ließ seinen Blick über den Sumpf schweifen. Als ich mich ihm – beinahe im Laufschritt – näherte, drehte er sich immer noch nicht um, obgleich er das Knirschen meiner Füße im Kies gehört haben mußte.
Ich setzte mich neben ihn aufs Gleis, und allein schon seine Gegenwart hatte eine beruhigende Wirkung auf mich.
»Hi«, sagte ich.
Er wartete eine Weile, so als ob er darauf hoffte, daß ich wieder gehen würde, ehe er sich endlich zu mir umdrehte und hallo sagte. Dann schaute er mich an. So richtig gründlich. Als ob er mein Gesicht auf irgend etwas untersuchen würde. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihn nun meinerseits prüfend anzusehen. Er sah ziemlich alt aus – vielleicht Mitte Dreißig oder so – und hatte strohige Haare, die er mit einem Seitenscheitel gebändigt hatte, sowie einen dichten, aber kurzen Bart. Sein Blick hatte etwas leicht Verstörendes: glasig, aber irgendwie trotzdem noch durchdringend. Und er trug nicht das übliche Traveller-Outfit, sondern hatte tatsächlich ein Hemd und eine Hose an.
»Wo kommst du her?« fragte ich.
»Bangalore«, erwiderte er und beobachtete meine Reaktion. Ich versuchte, keine zu zeigen, aber das funktionierte nicht ganz. Während ich noch überlegte, wie ich fragen konnte, ohne rassistisch zu klingen, fügte er hinzu: »Manchester.«
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