Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meine Freundin, der Guru und ich

Meine Freundin, der Guru und ich

Titel: Meine Freundin, der Guru und ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Sutcliffe
Vom Netzwerk:
herein.
    Als ich eintrat, fiel mir auf, daß es das erste Mal war, daß ich eine fremde Wohnung betrat, seit ich hier in Indien war. Ich war überrascht, wie sehr sie einer englischen ähnelte: der Fernseher in der Ecke, ein paar Sessel, ein Teppich, Bilder an den Wänden. Das hatte alles einen ziemlich hohen Wiedererkennungswert.
    »Setzen Sie sich doch bitte«, sagte der Mann und deutete auf einen Sessel. »Sie dürfen gern einen Blick auf unsere Schriften werfen.« Er verwies auf einen Stapel Broschüren, der auf dem Kaffeetisch lag, und verließ den Raum.
    Ich hörte, wie er irgendwas auf Hindi brüllte, nahm eine der Broschüren in die Hand und begann zu lesen. Den Farben und dem Schrifttyp nach zu urteilen, war sie in den siebziger Jahren gedruckt worden. Vorne drauf stand South India Christian Mission: An Introduction. Drunter stand jede Menge Text, ich hatte aber keinen Bock, ihn zu lesen. Als ich das Faltblatt aufschlug, sahen mir drei Bilder entgegen, auf drei Seiten verteilt. Über jedem Bild eine Überschrift. Links stand WISSEN, darunter das Bild eines weisen alten Mannes mit einem grauen Bart. In der Mitte stand SCHÖNHEIT, darunter das Bild eines Schmetterlings, und rechts stand KRAFT, darunter das Bild eines Atompilzes.
    Ich war gerade dabei, meine Kinnlade wieder vom Kaffeetisch zu holen, als Charles mit einem zerlumpten Kind im Schlepptau zurückkehrte. Er schrie irgendwas, worauf das Kind anfing, mit einem Reisigbündel den Boden unter meinen Füßen zu kehren. Ein weiterer Befehl, und das Kind verließ den Raum.
    »Tee und Kuchen kommen gleich«, sagte Charles, während ich im Sessel saß, mit dem Faltblatt rumspielte und überlegte, was ich sagen sollte.
    Nach einer Weile drängten sich sieben oder acht adrett gekleidete Kinder in den Raum, die sich gegenseitig schubsten, um eine gute Aussicht auf mich zu haben, ohne mir zu nahe zu kommen.
    »Das sind meine Enkelkinder«, sagte er. »Und wenn es Ihnen nichts ausmacht, hätten sie gern Ihr Autogramm.«
    »Mein Autogramm?«
    »Genau. Ein Beispiel Ihrer Handschrift wird für sie sehr lehrreich sein.«
    Ich brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, daß meine Handschrift schon miserabel gewesen war, als ich zehn war, und sich seither stetig verschlimmert hatte. Er reichte mir einen Stift und sagte zu seinen Enkeln etwas auf Hindi. Der Reihe nach traten sie auf mich zu und gaben mir jeder ein Stück Papier. Ich schrieb meinen Namen darauf sowie eine kleine Botschaft für jedes von ihnen – wobei ich versuchte, möglichst ordentlich zu schreiben – und gab jedem Kind einen Klaps auf den Kopf.
    Danach stürmten die Kleinen aus dem Zimmer und rannten lachend auf die Straße.
    »Sie sind ein äußerst gütiger Mensch«, sagte Charles. »Das sehe ich bereits. Mehr, als die Pflicht verlangt – das ist Ihr Motto.«
    »Ah … ja, schon.«
    »Und bescheiden dazu, natürlich. Das englische Bildungswesen ist doch immer noch das beste in der ganzen Welt, wie ich mit Freude feststellen kann.«
    »Da bin ich mir nicht so sicher, wissen Sie …«
    »Kommen Sie, kommen Sie. Sie haben das bereits zum Ausdruck gebracht. Staatliche Schule oder Privatschule – ich will es gar nicht wissen. Über Ihr ganzes Gesicht steht Gentleman geschrieben.«
    »Haben Sie vielen Dank, und erlauben Sie, daß ich das Kompliment zurückgebe.«
    Jesus! Jetzt redete ich auch schon so wie er.
    »Ich tue mein Bestes, ich tue mein Bestes.«
    In diesem Moment kam eine alte Frau herein, in der Hand ein Tablett, auf dem neben einer Kanne Tee eine Auswahl von derart verführerischen Kuchenstücken zu sehen war, daß mir schon bei deren Anblick die Zähne weh taten. Sie stellte das Tablett vor mich hin und zog sich zurück in Richtung Tür.
    »Meine Frau«, sagte Charles.
    »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte ich und winkte ihr kurz zu.
    »Namaste«, sagte sie nickend und lächelte.
    Ich nickte und lächelte ebenfalls, dann verschwand sie.
    Danach ging Charles und mir langsam, aber sicher der Gesprächsstoff aus. Ich versuchte ihn über seine Familie und seine Arbeit auszufragen, aber es war nicht besonders viel aus ihm herauszukriegen. Er gab immer nur kurze, verlegene Antworten, als ob meine Fragen entweder unverschämt oder langweilig wären. Ich wußte, daß dies meine große Chance war, herauszufinden, wie es sich eigentlich anfühlte, ein Inder zu sein, aber ich kam nicht sehr weit. Als alle meine Versuche, ein Gespräch anzufangen, auf Grund gelaufen waren, übernahm er und

Weitere Kostenlose Bücher