Meine Freundin, der Guru und ich
drückte mir die üblichen Job/Heirat/Heimat-Fragen rein. Danach bombardierte er mich endlos mit leerem Gewäsch über seine Stellung in der Kirche und den Erfolg der South India Mission. Es war unmöglich, ihm zu entkommen, und erst als ich schon anfing, vor Langeweile die Wände hochzugeben, gelang es mir endlich, die Biege zu machen.
Auch wenn wir im Grunde genommen nicht groß ins Gespräch gekommen waren und ich mich die meiste Zeit zu Tode gelangweilt hatte, so hatte ich doch das Gefühl, daß dieser Besuch einen bedeutenden, positiven Wendepunkt markierte. Ich war tatsächlich zu einem Inder nach Hause gegangen. War hineingegangen, hatte mich hingesetzt und mit einem echten Inder geredet.
Während der gesamten zwei Monate meines bisherigen Aufenthalts hatten die gelegentlichen Blicke in anderer Leute Häuser bei mir immer die quälende Frage ausgelöst, wie es dort drinnen wohl wirklich aussah. Zuvor war ich nie über einen Blick durch ein Fenster oder eine Tür hinausgekommen, aber nun war ich tatsächlich ins Innere vorgedrungen. Ich hatte das echte Indien gesehen. Ich hatte in Erfahrung gebracht, wie die Menschen lebten.
Mit einem Mal erschien mir alles andere, was ich bisher in Indien getan hatte, total oberflächlich. Ich hatte nur in Hotels rumgesessen und mich mit anderen Reisenden unterhalten. Ich hatte meine Zeit verplempert. Igor hatte recht – eigentlich hatte ich gar nichts gesehen. Von nun an, beschloß ich, würde alles anders werden. Ich würde allein bleiben. Ich würde nicht mehr nach anderen Westlern Ausschau halten, um mich hinter ihnen zu verstecken. Ich würde mir Mühe geben, mit Indern ins Gespräch zu kommen. Ich würde mich mit ihnen anfreunden und versuchen, in ihre Häuser zu gelangen. Ich würde zu einem richtigen Traveller werden.
Das
ist es eben, was
Indien
mit dir anstellt
An jenem Abend nahm ich meine erste anständige Mahlzeit seit dem Hunde-Hamburger zu mir. Noch vor ein paar Monaten wäre es mir wohl kaum eingefallen, die über einen Klumpen klebrigen Reis geschüttete Linsenpampe als anständige Mahlzeit zu bezeichnen, aber unter den gegenwärtigen Umständen war es die größte Herausforderung für mein Verdauungssystem seit langem.
Nach einigen grummelnden Protesten spürte ich, wie mein, Magen die Extraarbeit widerwillig annahm. Die Nahrung schien nicht länger frei in meinem Inneren zu flottieren, bereit, sich jeden Augenblick aus meinem Mund zu stürzen, sondern setzte sich tatsächlich ab und vermittelte den Eindruck, willens zu sein, sich verdauen zu lassen. Wenn ich es nur hinbekam, die Durchlaufzeit auf über zehn Minuten zu erhöhen, würde ich vielleicht genug Nährstoffe rausziehen, um wieder etwas zu Kräften zu kommen.
Nachdem ich soviel gegessen hatte, wie ich runterzwingen konnte, suchten meine Augen den Speisesaal des Hotels nach jemandem ab, mit dem ich reden konnte. Die Leute kamen und gingen, aber ich wurde das Gefühl nicht los, daß sie mich alle ignorierten. Eine geschlagene Stunde saß ich da und wartete verzweifelt auf eine Gelegenheit, mit jemandem ins Gespräch zu kommen. Doch jedesmal, wenn ich irgend jemandes Blick auffing, sah die betreffende Person weg, bevor ich noch Zeit hatte, etwas zu sagen.
Das Ganze war mir äußerst rätselhaft, bis ich, auf dem Weg ins Bett, an einem Spiegel vorbeikam. Ich sah aus wie eines dieser komatösen Gerippe, die ich an meinem ersten Tag in Delhi gesehen hatte. Meine Wangen waren eingefallen und mit langen, büscheligen Bartstoppeln überzogen, meine Augen waren erloschen, meine Haare fettig und meine Mundwinkel säuerlich nach unten gezurrt. Ich sah aus wie die Hölle. Selbst ich wäre vor mir weggelaufen.
Ich ging ins Bett und starrte ein paar Stunden lang teilnahmslos ins Leere.
Ich war wirklich zu einem dieser lebenden Toten geworden.
Trotz meiner »Mahlzeit« schlief ich die ganze Nacht durch, ohne irgendwelche notgedrungenen Abstecher auf die Toilette unternehmen zu müssen, und wachte am nächsten Morgen mit dem festen Entschluß auf, mich mit Essen vollzustopfen, bis ich wieder halbwegs wie ein Mensch aussah.
Fettigem oder würzigem Essen traute ich immer noch nicht über den Weg, weshalb ich zum Frühstück erst einmal vier gekochte Eier und ein paar Chapatis zu mir nahm, bevor ich mich an meine Mission machte, mit dem Subkontinent Freundschaft zu schließen.
Ich spazierte ein wenig durch die Gegend und lächelte die Leute, denen ich begegnete, an, aber das konnte anscheinend niemanden
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