Meine Freundin Jennie
Weg gelaufen — weißt du, ich hatte mich so schrecklich gelangweilt!» Hier senkte sie ihre Stimme und sprach in einem vertraulichen Flüsterton weiter: «Ich lebe nämlich bei schwerreichen Leuten, in einem Haus am Cavendish Square Nr. 35. Furchtbar reich, kann ich dir nur sagen. Er hat Aktien! Mach doch kein so trauriges Gesicht, Peter. Ich fühle mich wirklich richtig glücklich.» Und schon lief sie wieder weiter, hüpfte, sprang und tanzte vor Peter dahin und jauchzte und kreischte so übermütig, daß Peter über ihre drolligen Einfälle nur von Herzen lachen konnte und in vollem Galopp hinter ihr her rannte.
Trotz vieler ähnlicher Aufenthalte gelangten sie schließlich — zumal sie eine Zeitlang immer bergauf gelaufen waren, durch viele winklige Straßen mit kleinen Häusern, die sich zum Verwechseln ähnlich sahen — auf einen freien Platz, den ein Geländer umschloß und der so hoch lag, daß man sich einbilden konnte, auf einem abgeflachten Berggipfel zu stehen. Denn wenn man von da oben hinunterblickte, sah man zu seinen Füßen ganz London liegen mit seinen unzähligen Straßen und Häusern und Kirchtürmen, dem sich hindurchschlängelnden Silberband der Themse, Millionen und aber Millionen von Kaminkappen auf den Dächern, endlosen Reihen von grauen Gebäuden und in der Ferne da und dort ein paar grüne Flecken — die kleinen Parks auf den Plätzen. Auch ein sehr großer grüner Fleck war zu sehen, das war der Regent’s Park, ein zweiter, der nur der Hyde Park sein konnte, und noch ein dritter: die Kensington Gardens. Weit hinten ragten die hohen Schornsteine und Krane auf, an denen man die an der Themse gelegenen Werften, Fabriken und Lagerhäuser erkennen konnte, und dahinter verschwamm alles in einem bläulichen Dunst von Nebel und Rauch.
«Die Heide von Hampstead!» verkündete Lulu. «Ist das nicht ein malerischer Anblick? Ich geh hier öfter mal her, nur um ein bißchen nachzudenken», und dabei warf sie sich auf den Boden, schloß die Augen und hielt für ganze fünf Sekunden den Mund, sprang dann aber gleich wieder auf, fuhr sich mit der Zunge rechts und links über den Hals und sagte: «So, nachdem ich nun nachgedacht habe, wo gehen wir jetzt hin? Ach, ich möchte mich einmal nach Herzenslust amüsieren. Man kann doch nicht andauernd nur ernst sein, weißt du...»
Es war schon fast Mittag, denn der Ausflug zur Heide hinauf hatte allerhand Zeit beansprucht, und Peter riskierte es, Lulu daran zu erinnern, daß es schon recht spät sei. «Solltest du dich nicht besser auf den Heimweg machen?» fragte er. «Ich frage dich nur deiner Leute wegen. Werden sie dich nicht schon vermissen?»
«Mich vermissen? Natürlich werden sie das. Sie werden zerspringen, wenn ich mich den ganzen Tag nicht blicken lasse. Aber das ist ja gerade der Spaß dabei. Wenn sie sich nicht um mich sorgten, wär’s ja nur das halbe Vergnügen, verstehst du das nicht? Ich bin sicher, sie werden schon Mr. Wiggo, den Polizeiwachtmeister, verständigt haben. Sie mögen es gar nicht, daß ich mich draußen herumtreibe. Aber manchmal bin ich schon tagelang weggeblieben, wenn ich keine Lust hatte, nach Hause zu gehen, und mir scheint, im Augenblick habe ich gar keine Lust dazu. Mir ist viel eher danach, womöglich drei bis vier Tage fortzubleiben, nur um zu sehen, wie das ist. Das hab ich bisher noch nie getan, und sie werden sich bestimmt mächtig aufregen. Oh, hör doch mal, Peter! Das klingt ja, als machten sie hier irgendwo Musik. Komm, da gehen wir jetzt hin!»
Lulu hatte sich nicht getäuscht. Als Peter die Ohren spitzte, um zu lauschen, konnte er deutlich hören, wie der Wind ihnen die Klänge von dem lustigen Gedudel eines Karussells zutrug. Irgendwo in der Nähe mußte sich ein Rummelplatz befinden.
Sie brachen auf und liefen in der Richtung weiter, aus der die Musik zu ihnen herüberklang, und es dauerte nicht lange, da gelangten sie zu einem großen Platz, der voller Zelte stand, an deren Spitzen bunte kleine Wimpel flatterten und in denen es wilde Tiere und tanzende Mädchen zu sehen gab, Wahrsagerinnen, Feuerfresser, Degenschlucker und aller- ‘ hand Apparate, die jeden Besucher dazu herausforderten, seine Kräfte daran zu messen; und rund herum Karussells, Luftschaukeln und Autorutschbahnen nebst unzähligen Buden, in denen man auf Puppen schießen, nach Kokosnüssen werfen, würfeln und Eiscreme essen konnte — kurz, das ganze lustige und lärmende Drum und Dran eines Jahrmarktsrummels, der wie ein
Weitere Kostenlose Bücher