Meine Freundin Jennie
Seite, wo sie sich nun in diesem abgegrenzten Teil des Hafengeländes unbehindert fortbewegen konnten. Bis auf etwa ein halbes Dutzend Güterwagen, die auf einem Rangiergleis standen, war der große Platz da vor ihnen ganz leer, und im Hintergrund ragten die langgestreckten, bogenförmigen Lagerschuppen in spärlichen Licht des Halbmonds und der wenigen Sterne, die erst da und dort am Himmel funkelten, wie eine Bergkette auf.
Jennie hatte bereits etwas gesehen, was sie veranlaßte, stehenzubleiben und aufgeregt zu japsen und auszurufen: «Schau nur, Peter, dahinten, ganz am Ende!»
Peter blickte in die Richtung, in die Jennie zeigte. Weit, weit weg, am äußersten Ende des Geländes, schimmerte ein winziges gelbes Licht durch die Dunkelheit.
«Das kommt von der Baracke», sagte Jennie atemlos. «Das heißt also, daß Mr. Grims da ist. Ach, Peter, mir ist richtig ein Stein vom Herzen gefallen!»
Doch jetzt, wo das Ziel, dem sie so eilig zugestrebt waren, sichtbar vor ihnen lag, stürzten sie nicht Hals über Kopf darauf zu, sondern schritten, ohne zu ahnen, warum sie das eigentlich taten, langsam und bedächtig dem blinkenden gelben Licht entgegen.
Der Lichtschein kam tatsächlich aus der Baracke, stellten sie fest, denn als sie schon fast vor der Tür angelangt waren, konnten sie die unbeschirmt brennende elektrische Birne erblicken, die drinnen von der Decke herabhing. Und als sie noch ein paar Schritte näherkamen, konnten sie auch laute Stimmen hören, wie bei einem heftigen Streit, doch als sie dann durch ein Fenster hineinspähten, war niemand zu sehen. Sonst aber sah alles noch genau so aus wie an dem Tag, an dem sie aus der Baracke davongelaufen waren. Zu beiden Seiten der Tür standen noch die langen Kästen mit roten Geranien, und durchs Fenster konnten sie sogar drinnen einige von den Blumentöpfen mit den rosa und weißen, lachs- und orangefarbenen Blüten stehen sehen. Doch außer diesen rätselhaften Stimmen, von denen keine so klang wie die von Mr. Grims, deutete nicht der geringste Laut darauf hin, daß die Baracke noch bewohnt war.
Das Rätsel, wer sich da drinnen so lebhaft unterhielt, sollte sich jedoch aufklären, als sie die Türschwelle überschreiten wollten, denn gerade in diesem Augenblick verstummten die Stimmen plötzlich, und unmittelbar darauf ertönte eine flotte fröhliche Marschmusik.
«Das ist das Radio», sagte Peter. «Wahrscheinlich ist er hinausgegangen und hat das Licht brennen und das Radio laufen lassen, weil er gleich wieder zurückkommen wollte. Da können wir ihn vielleicht doch noch überraschen, Jennie! Die Tür werden wir doch aufbekommen, wenn er sie nicht zu fest zugedrückt hat, meinst du nicht?»
Statt einer Antwort stöhnte Jennie so tief, daß es sich wie ein heiseres Knurren anhörte, und als Peter sich zu ihr umdrehte, sah er, daß ihr Schwanz sich aufplusterte und sich auf ihrem Nacken jedes einzelne Haar zu sträuben schien.
«Jennie!» rief er erschrocken, «was hast du denn?»
«Ich... Das weiß ich nicht», erwiderte sie. «Ach, Peter, ich weiß nur, daß ich plötzlich solche Angst habe...»
«Na, ich hab aber keine», erklärte Peter mannhaft, obwohl er sich dessen durchaus nicht ganz sicher war. «Wovor sollten wir uns hier fürchten? Also komm, ich werde zuerst hineingehen», sagte er und lehnte sicch, mit seiner Schulter gegen die Tür. Das Schloß war nicht fest eingeschnappt, so daß es jetzt unter dem Druck mit einem lauten Klick nachgab, und dann ging die Tür mit einem leisen Ächzen gerade so weit auf daß Peter in die Baracke hineinsehen konnte.
Der Raum war sauber und ordentlich, und auch auf dem Tisch lag nichts herum, als hätte Mr. Grims an diesem Abend gar nichts gegessen Die vielen Geranien in den Töpfen waren über und über mit Blüten bedeckt, die zwischen dem dunklen Grün der dicken samtigen Blätter übet, all hervorleuchteten, und jede einzelne verströmte ihren Wohlgeruch, so daß der ganze Raum von dem lieblichen und zugleich herben und würzigen Geranienduft erfüllt war.
Als seine Augen sich dann an das grelle Licht der einzigen, in der Mitte des Raumes herabhängenden elektrischen Birne gewöhnt hatten, sah Peter auch Mr. Grims. Der alte Mann war schon zu Bett gegangen. Er lag dort ganz still, die welken gichtigen Hände vor sich auf der Decke, und schlief augenscheinlich ganz fest. Dieser Anblick griff Peter ans Herz. Er spürte, wie ihm die Augen feucht wurden, und er dachte, daß er noch nie einen alten Mann
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