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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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Antwort nach Southampton zu schicken, denn der Tag neigte sich schon dem Ende zu. In der Hoffnung, es könnte doch noch eine gute Nachricht eintreffen, wartete ich am Abend auf dem Postamt, bis es gegen Mitternacht die Türen schloss, aber es kam keine Mitteilung. Stumm saßen wir bis ein Uhr morgens zu Hause und warteten – worauf, wussten wir nicht. Dann nahmen wir den ersten Morgenzug, und als wir Southampton erreichten, war die Mitteilung eingetroffen. Sie lautete, dass die Genesung dauern werde, aber gewiss sei. Für mich war das eine große Erleichterung, aber nicht für meine Frau. Sie hatte Angst. Sie und Clara gingen sofort an Bord des Dampfers und fuhren nach Amerika, um Susy zu pflegen. Ich blieb zurück, um in Guildford ein größeres Haus zu suchen.
    Das war am 15. August 1896. Drei Tage später, meine Frau und Clarawaren etwa auf halbem Wege über den Ozean, stand ich in unserem Esszimmer und dachte an nichts Besonderes, als mir ein Überseetelegramm in die Hand gedrückt wurde. Es lautete: »Susy ist heute friedlich eingeschlafen.«
    Es ist eins der Geheimnisse unserer Natur, dass ein Mensch völlig unvorbereitet von einem solchen Blitzschlag getroffen werden kann und überlebt. Dafür gibt es nur eine vernünftige Erklärung. Der Intellekt ist von dem Schock wie betäubt und begreift den Sinn der Worte nur tastend. Zum Glück fehlt ihm die Kraft, ihre volle Bedeutung zu erfassen. Der Verstand hat das dumpfe Gefühl eines gewaltigen Verlustes – das ist alles. Verstand und Gedächtnis werden Monate, möglicherweise Jahre brauchen, um die Einzelheiten zusammenzufügen und so das ganze Ausmaß des Verlustes zu erfahren. Das Haus eines Menschen brennt ab. Die rauchende Ruine repräsentiert nur ein zerstörtes Heim, das einem nach Jahren der Nutzung und angenehmer Assoziationen teuer war. Da die Tage und Wochen verstreichen, vermisst man irgendwann erst dieses, dann jenes, dann ein Drittes. Und wenn man danach sucht, stellt man fest, dass es sich in dem Haus befunden hatte. Immer ist es etwas
Unverzichtbares
– es gab nur eins seiner Art. Es kann nicht ersetzt werden. Es befand sich in jenem Haus. Es ist unwiederbringlich verloren. Als man es noch hatte, wusste man nicht, dass es unverzichtbar war; das entdeckt man erst jetzt, wenn man sich von seiner Abwesenheit behindert und beeinträchtigt fühlt. Es dauert Jahre, bis die Geschichte verlorener, unverzichtbarer Dinge abgeschlossen ist, und erst dann erkennt man das ganze Ausmaß der Katastrophe.
    Der 18. August brachte mir die schreckliche Nachricht. Mutter und Schwester waren dort draußen, mitten auf dem Atlantik; in Unkenntnis des Geschehens; eilten auf dieses unglaubliche Unglück zu. Verwandte und gute Freunde taten alles, was getan werden konnte, um sie vor der vollen Gewalt des Schocks zu schützen. Sie gingen nachts zur Bucht, zum Schiff, zeigten sich aber erst am Morgen und dann nur Clara. Als diese in die Kabine zurückkehrte, konnte sie nicht sprechen und brauchte auch nicht zu sprechen. Ihre Mutter warf einen Blick auf sie und sagte:
    »Susy ist tot.«
    Abends um halb elf beendeten Clara und ihre Mutter ihre Weltumseglungund kamen mit demselben Zug und in demselben Waggon in Elmira an, der sie und mich ein Jahr, einen Monat und eine Woche zuvor nach Westen gebracht hatte. Und wieder war Susy da – winkte aber nicht zur Begrüßung, wie sie uns dreizehn Monate vorher im gleißenden Licht zum Abschied gewinkt hatte, sondern lag bleich und schön in ihrem Sarg in dem Haus, in dem sie zur Welt gekommen war.
    Die letzten dreizehn Tage ihres Lebens hatte Susy in unserem Haus in Hartford verbracht, dem Haus ihrer Kindheit und ihrem liebsten Ort auf Erden. Um sie hatten sich treue alte Freunde geschart – ihr Pastor Mr. Twichell, der sie von der Wiege an gekannt und eine lange Reise auf sich genommen hatte, um bei ihr zu sein; ihr Onkel und ihre Tante Mr. und Mrs. Theodore Crane; Patrick, der Kutscher; Katy, die in unsere Dienste getreten war, als Susy acht Jahre alt war; John und Ellen, die viele Jahre bei uns gewesen sind. Auch Jean war da.
    Um die Stunde, als meine Frau und Clara in See gestochen waren, befand sich Susy noch nicht in Gefahr. Drei Stunden später verschlimmerte sich ihr Zustand plötzlich. Eine Hirnhautentzündung stellte sich ein, und es war sofort offenkundig, dass Susy dem Tod geweiht war. Das war Samstag, der 15. August.
    »An diesem Abend nahm sie zum letzten Mal Nahrung zu sich.« (Jeans Brief an mich.) Am nächsten

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