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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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Morgen wütete das Gehirnfieber. Unter Schmerzen und im Fieberwahn lief sie ein wenig auf und ab, dann ergab sie sich ihrer Schwäche und kehrte in ihr Bett zurück. Vorher hatte sie in einem Wandschrank ein Kleid gefunden, das sie früher einmal an ihrer Mutter gesehen hatte. Sie hielt es für ihre tote Mutter und küsste es weinend. Gegen Mittag erblindete sie (eine Auswirkung der Krankheit) und beklagte sich bei ihrem Onkel darüber.
    Jeans Brief entnehme ich einen Satz, der keines Kommentars bedarf:
    »Gegen ein Uhr nachmittags sprach Susy zum letzten Mal.«
    Als sie dieses eine letzte Mal sprach, sagte sie nur ein Wort, und das verriet ihre ganze Sehnsucht. Sie tastete mit den Händen umher und fand Katy, und sie streichelte ihr Gesicht und sagte: »Mama.«
    Wie gnadenreich, dass ihr in der einsamen Stunde des Untergangs und desVerderbens, als sich die Nacht des Todes um sie schloss, diese schöne Illusion gewährt wurde – dass die letzte Vision, die auf dem beschlagenen Spiegel ihres Geistes ruhte, die Vision ihrer lieben Mutter war und die letzte Gefühlsregung ihres Lebens die Freude und der Friede jener imaginierten Gegenwart.
    Gegen zwei Uhr beruhigte sie sich, als würde sie nun schlafen, und rührte sich nicht mehr. Sie verlor das Bewusstsein, und so blieb es zwei Tage und fünf Stunden, bis sie Dienstagabend sieben Minuten nach sieben erlöst wurde. Sie war vierundzwanzig Jahre und fünf Monate alt.
    Am 23. haben ihre Mutter und ihre Schwestern sie zur letzten Ruhe geleitet – sie, die unser Wunder und unsere Wonne war.
    In einem ihrer Bücher habe ich einige Verse gefunden, die ich hier einfügen möchte. Zitate hat sie offenbar immer in Anführungszeichen gesetzt. Hier fehlen die Anführungszeichen, daher nehme ich an, dass die Verse von ihr selbst stammen.
    Die Liebe kam am Morgen, da war die Welt sehr schön,
    Mit roter Blütenpracht und Liederweben;
    Die Liebe kam am Morgen, mit leisem Hoffnungswehn,
    Und murmelte: »Ich bin das Leben.«
     
    Die Liebe kam am Abend, da war der Tag vorbei,
    Dein Herz, dein Hirn sind müde, schon schlummerst du;
    Die Liebe kam am Abend, die Sonne war schon scheu,
    Und flüsterte: »Ich bin die Ruh.«
    Die Sommer ihrer Kindheit verbrachte Susy auf der Quarry Farm in den Hügeln östlich von Elmira, New York, die übrigen Jahreszeiten zu Hause in Hartford. Wie andere Kinder war sie munter und vergnügt und spielte gern;
anders
als die meisten Kinder neigte sie mitunter dazu, sich in sich zu kehren und zu versuchen, dem verborgenen tieferen Sinn der Dinge nachzuspüren, der Rätsel und Pathos der menschlichen Existenz ausmacht und den Fragesteller zu allen Zeiten verstört und verhöhnt hat. Als kleines siebenjähriges Kind bedrückte und verwirrte sie die unerträgliche Wiederholung alltäglicherVerrichtungen während des Menschen flüchtigen Aufenthalts auf Erden, so wie die gleiche Frage von Anbeginn der Zeit reifere Geister bedrückt und verwirrt hat. Eine Myriade Menschen werden geboren; sie ackern und rackern und ringen um ihr Brot; sie zanken und zetern und streiten; sie rangeln sich um kleine schäbige Vorteile; das Alter beschleicht sie; Gebrechen folgen; Schändlichkeiten und Demütigungen brechen ihren Stolz und ihre Eitelkeit; die sie lieben, werden ihnen genommen, und Lebensfreude verwandelt sich in kummervolles Leid. Die Last der Schmerzen, Sorgen, Qualen wird Jahr für Jahr schwerer; schließlich ist aller Ehrgeiz erloschen, aller Stolz erloschen, alle Eitelkeit erloschen; an ihre Stelle tritt das Verlangen nach Erlösung. Diese vollzieht sich schließlich – das einzige unvergiftete Geschenk, das die Erde je für sie bereitgehalten hat –, und sie verschwinden aus einer Welt, in der sie ohne jede Bedeutung gewesen sind; in der sie nichts erreicht haben; in der sie ein Irrtum, ein Misserfolg, eine Torheit gewesen sind; in der sie kein Zeichen hinterlassen, dass sie je gelebt haben – eine Welt, die sie einen Tag lang betrauert und dann für immer vergisst. Dann nimmt eine andere Myriade ihren Platz ein und ahmt nach, was sie vorgemacht haben, wandelt auf derselben nutzlosen Straße und verschwindet, wie sie verschwunden sind – um einer anderen zu weichen und noch einer und einer Million anderer Myriaden, die demselben staubigen Pfad durch dieselbe Wüste folgen und vollbringen, was die erste Myriade und all die Myriaden, die nach ihr kamen, vollbracht haben – nichts!
    »Mama, wozu ist das alles gut?«, fragte Susy und brachte einleitend die eben

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