Meine geheime Autobiographie - Textedition
einer Waldlichtung; ein paar Tage lang hatten sie
zwei aufgeweckte und angenehme junge Burschen zu Gast, und zwar: Bynner, den jungen Dichter, ein
Redaktionsmitglied der Zeitschrift von McClure, und Guy Faulkner, der für eine andere Zeitschrift
arbeitete. Ich hatte sie noch nie gesehen; da wir aber dem gleichen Gewerbe nachgingen, wollten sie
bei mir vorbeischauen. Ein, zwei Tage lang diskutierten sie die Schicklichkeit dieser Invasion und
versuchten, sich über ihr Vorhaben schlüssig zu werden. Miss Lyon, meine Sekretärin, kannten sie
sehr gut. Schließlich sagte einer von ihnen: »Ach, komm, es wird schon gutgehen. Wagen wir uns in
die Höhle des Löwen.« Der andere erwiderte: »Aber woher wissen wir, dass der alte Löwe im Moment
überhaupt da ist?« Auf diese Bemerkung kam die Antwort: »Na, die Löwin des heiligen Mark werden wir
bestimmt antreffen.« 19
Mittwoch, 7. März 1906
Susys Biographie –
Der Vorfall mit John Hay – Der einem jungen Mädchen
einen französischen Roman gibt – Susy und ihr Vater begleiten Mrs. Clemens
zum Zug, fahren anschließend über die Brooklyn Bridge – Auf dem Weg
nach Vassar diskutieren sie deutsche Flüche – Mr. Clemens erzählt von
dem süßen fluchenden deutschen Kindermädchen – Die Ankunft in Vassar
und der trostlose Empfang – Von Susy erzählt – Die Lesung usw. –
Mr. Clemens’ Meinung über Mädchen – Heute Nachmittag wird er
vor den Mädchen von Barnard lesen
Aus Susys Biographie
Am nächsten Tag wollte Mama den Vier-Uhr-Zug nach Hartford nehmen. Wir standen
zimlich früh auf, gingen zur Wiener Bäckerei und frühstückten dort. Von da gingen wir zu einer
deutschen Buchhandlung und kauften einige deutsche Bücher für Claras Geburtstag.
Du liebe Zeit, diese
Macht der Assoziation, schimmelige tote Erinnerungen aus ihren Gräbern zu reißen und
wiederauferstehen zu lassen! Diese Bemerkung über den Kauf ausländischer Bücher wirft jäh ein
grelles Licht auf die ferne Vergangenheit; und mit gespenstischer Lebhaftigkeit sehe ich eine lange
New Yorker Straße vor mir, auf der John Hay entlanggeht, ernst und reuevoll. Auch ich ging an jenem
Morgen diese Straße entlang, ich überholte Hay und fragte ihn, was denn los sei. Er richtete seinen
stumpfen Blick auf mich und sagte:
»Mein Fall ist aussichtslos. Auf die unschuldigste Weise der Welt habe ich ein Verbrechen begangen,
das mir die Opfer niemals verzeihen werden, denn sie werden niemals glauben – ach was, ich wollte
sagen, sie werden niemals glauben, dass mir die Sache ohne böse Absicht unterlaufen ist. Dabei
werden sie wissen, dass ich arglos gehandelt habe, es sind ja vernünftige Leute; ach, was soll’s?
Ich werde ihnen nie wieder ins Gesicht sehen können – und sie mir vielleicht auch nicht.«
Hay war Junggeselle und arbeitete damals
bei der
Tribune
. Er schilderte sein Unglück etwa mit diesen Worten:
»Als ich gestern Morgen auf dem Weg ins
Büro hier entlangkam, betrat ich einen Buchladen, wo man mich kennt, und fragte, ob es etwas Neues
von der anderen Seite des Atlantiks gebe. Man reichte mir einen französischen Roman in dem
gewöhnlichen gelben Papierumschlag, und ich nahm ihn mit. Ich warf nicht einmal einen Blick auf den
Titel. Der Roman war als Freizeitlektüre gedacht, und ich war auf dem Weg zur Arbeit. Verträumt ging
ich weiter und dürfte noch keine fünfzig Meter gegangen sein, als ich jemanden meinen Namen rufen
hörte. Ich blieb stehen, eine private Kutsche hielt am Gehsteig, und ich schüttelte den Insassen die
Hände – Mutter und junger Tochter, ausgezeichneten Leuten. Sie waren auf dem Weg zu ihrem
Dampfschiff nach Paris. Die Mutter sagte:
›Ich habe das Buch in Ihrer Hand gesehen und nach dem Aussehen
geurteilt, dass es ein französischer Roman ist. Habe ich recht?‹
Ich bejahte.
Sie sagte: ›Könnten Sie ihn mir wohl überlassen, damit meine
Tochter während der Überfahrt ihr Französisch praktizieren kann?‹
Natürlich gab ich ihr das Buch, und wir
trennten uns. Vor zehn Minuten kam ich abermals an dem Buchladen vorbei, eine teuflische Eingebung
erinnerte mich an den gestrigen Tag, ich trat ein und besorgte mir ein weiteres Exemplar des Buches.
Hier ist es. Lesen Sie die erste Seite. Das reicht schon. Sie werden wissen, wie der Rest ist. Ich
glaube, es ist das unflätigste Buch, das es in französischer Sprache gibt – zumindest eines der
unflätigsten. Ich würde mich schämen, es einem leichten Mädchen anzubieten – aber oje, ohne mich
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