Meine geheime Autobiographie - Textedition
dessen Zeit gekommen war, und das war gut für sie und günstig, aber ich hatte nichts – den ganzen Tag lang nichts.
Als ich schon sehr müde war, gab ich mein Vorhaben, sie lebend zu fangen, mehr als einmal auf und wollte sie schießen, doch ich tat es nicht, obwohl es mein Recht war, denn ich glaubte nicht daran, sie zu treffen; außerdem hieltsie jedes Mal, wenn ich die Flinte hob, inne und posierte, und das stimmte mich argwöhnisch. Vielleicht wusste sie Bescheid über mich und meine Treffsicherheit, und mir lag nicht daran, mich irgendwelchen Bemerkungen auszusetzen.
Ich bekam sie nicht zu fassen. Als sie das Spiel schließlich leid war, hob sie fast unter meiner Hand ab, flog schwirrend und sirrend wie eine Granate in die Höhe, landete auf dem höchsten Ast eines großen Baumes, ließ sich dort nieder, schlug die Beine übereinander und blickte lächelnd auf mich herab. Sie schien zufrieden, mich so verblüfft zu sehen.
Ich war beschämt, und ich hatte mich verlaufen; als ich aber suchend durch die Wälder irrte, stieß ich auf eine verlassene Blockhütte und fand dort eine der besten Mahlzeiten vor, die ich mein Lebtag zu mir genommen habe. Der unkrautüberwucherte Garten war voll reifer Tomaten, und diese verschlang ich gierig, obwohl ich bis dahin nicht viel für sie übriggehabt hatte. Seither ist mir nicht öfter als zwei-, dreimal etwas untergekommen, was so köstlich war wie diese Tomaten. Ich aß sie mir über und probierte erst in meinen mittleren Jahren wieder welche. Inzwischen kann ich sie zwar essen, mag aber ihren Anblick nicht. Ich vermute, wir alle haben uns irgendwann schon einmal an etwas übergessen. Ein andermal, unter dem Druck der Umstände, verspeiste ich nahezu ein ganzes Fass Sardinen, da nichts anderes zur Hand war, doch seitdem ist es mir gelungen, ohne Sardinen auszukommen.
Der jüngste Versuch
1904 in Florenz schließlich verfiel ich auf die richtige Art, eine Autobiographie zu schreiben: Beginne an einem beliebigen Zeitpunkt deines Lebens; durchwandre dein Leben, wie du lustig bist; rede nur über das, was dich im Augenblick interessiert, lass das Thema fallen, sobald dein Interesse zu erlahmen droht; und bring das Gespräch auf die neuere und interessantere Sache, die sich dir inzwischen aufgedrängt hat.
Mach außerdem aus der Erzählung eine Kombination von Autobiographie und Tagebuch. Auf diese Weise erreichst du, dass die anschaulichenDinge der Gegenwart mit Erinnerungen an ähnliche Dinge aus der Vergangenheit kontrastiert werden, und solche Kontraste besitzen einen ganz eigenen Reiz. Eine Kombination von Tagebuch und Autobiographie interessant zu machen, dazu braucht es kein Talent.
Und so habe ich den richtigen Plan gefunden. Er macht meine Arbeit zu einem Vergnügen – zu einem reinen Vergnügen, einem Spiel, einem Zeitvertreib, und das ganz und gar mühelos. Zum ersten Mal in der Geschichte ist jemand auf den richtigen Plan verfallen.
Der endgültige (und richtige) Plan
Ich werde einen Text verfassen, der der Autobiographie vorausgehen soll; ebenso ein Vorwort, das besagtem Text folgen soll.
Was für einen winzig kleinen Bruchteil des Lebens machen die Taten und Worte eines Menschen aus! Sein wirkliches Leben findet in seinem Kopf statt und ist niemandem bekannt außer ihm. Den ganzen Tag und jeden Tag mahlt die Mühle seines Hirns, und seine
Gedanken
(die nichts anderes als die stumme Artikulierung seiner
Gefühle
sind) sind seine Geschichte, nicht jene anderen Dinge. Seine
Taten
und seine
Worte
sind lediglich die sichtbare dünne Kruste seiner Welt mit ihren vereinzelten Schneegipfeln und ihren leeren Wasserwüsten, und die machen einen so unbedeutenden Teil seiner Masse aus! – eine bloße Haut, die sie umhüllt. Seine Masse ist verborgen – sie und ihre vulkanischen Feuer, die wüten und brodeln und niemals ruhen, nicht bei Tag und nicht bei Nacht.
Diese sind sein Leben,
sie sind nicht aufgezeichnet und können auch nicht aufgezeichnet werden. Jeder Tag würde ein ganzes Buch mit achtzigtausend Wörtern füllen – dreihundertfünfundsechzig Bücher im Jahr. Biographien sind nur die Kleider und Knöpfe des Menschen – die Biographie des Menschen kann nicht geschrieben werden.
Vorwort. Wie aus dem Grab
I
In dieser Autobiographie werde ich stets im Hinterkopf behalten, dass ich aus dem Grab spreche. Ich spreche buchstäblich aus dem Grab, denn wenn das Buch aus der Druckerpresse kommt, werde ich tot sein. Jedenfalls werden – um genau zu sein
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