Meine geheime Autobiographie - Textedition
Greeley.Ich lasse diese
Bemerkung in einem eigenen Absatz stehen; man kann sie nicht deutlich genug
hervorheben. John Hay war der einzige Mann, der Horace Greeley bei der
Tribune
diente, von dem sich das behaupten lässt. In den vergangenen
paar Jahren, seit Hay den Posten des Außenministers bekleidet und mit einer Reihe
außenpolitischer Schwierigkeiten zu kämpfen hat, wie sie vielleicht keinem der
früheren Amtsinhaber zugefallen sind, wenn wir das Ausmaß der betreffenden
Angelegenheiten bedenken, haben wir gesehen, dass der Mut seiner Jugendjahre noch
immer sein wertvollster Besitz ist und er sich von Königen und Kaisern und deren
Flotten und Armeen ebenso wenig einschüchtern lässt wie von Horace Greeley.
Jetzt komme ich zur
Anwendung. An jenem Sonntag vor fünfundzwanzig Jahren hatten Hay und ich geplaudert
und gelacht und herumgealbert, fast wie unsere früheren Ichs von 67, als die Tür
aufging und Mrs. Hay im Rahmen stand, feierlich gekleidet, behandschuht und behaubt,
zurück vom Kirchgang und nach dem Wohlgeruch presbyterianischer Frömmigkeit duftend.
Natürlich erhoben wir uns sofort, erhoben uns in eine rasant sinkende Temperatur –
eine Temperatur, die zu Beginn lind und sommerlich gewesen war, die jedoch, bis wir
aufrecht standen, unseren Atem und alle anderen feuchten Dinge zu Eiskristallen
gefror –, erhielten aber keine Gelegenheit, etwas Hübsches und Höfliches zu sagen
und die gebührende Ehrerbietung zu erweisen, denn die wohlgestalte junge Matrone kam
uns zuvor. Ohne ein Lächeln, mit dem deutlichen Ausdruck der Missbilligung trat sie
auf uns zu, sagte kalt: »Guten Morgen, Mr. Clemens«, schritt an uns vorüber und
hinaus.
Es
entstand eine verlegene Pause – ich könnte sagen: eine überaus verlegene Pause.
Falls Hay darauf wartete, dass ich etwas sagte, so hatte er sich verschätzt; mir
fiel nicht ein Wort ein. Bald war mir klar, dass auch aus seinem Vokabular der Boden
herausgefallen war. Als ich meine Beine wieder bewegen konnte, strebte ich zur Tür,
und Hay, der gewissermaßen über Nacht ergraut war, humpelte schwach an meiner Seite,
ohne einen Ton von sich zu geben, ohne ein Wort zu sagen. An der Tür züngelte seine
alte Höflichkeit empor und flackerte einen Moment lang tapfer, dann erlosch sie.
Will sagen, er versuchte, mich zu einem neuerlichen Besuch aufzufordern, doch an
diesem Punkt bäumte sich seine alte Ehrlichkeit gegen die Fiktionauf und zermalmte sie. Dann versuchte er es mit einer weiteren Bemerkung, und
diesmal brachte er sie hervor. Kläglich und kleinlaut sagte er:
»Mit den Sonntagen nimmt
sie es sehr genau.«
Mehr als einmal habe ich in diesen vergangenen paar Jahren Leute voller Bewunderung
und Dankbarkeit sagen hören und habe es auch selbst gesagt:
»Er fürchtet die gesamte
Nation von achtzig Millionen nicht, wenn seine Pflicht es erfordert, etwas
Unpopuläres zu tun.«
Seitdem sind fünfundzwanzig Jahre vergangen, und
mannigfaltige Erfahrung hat mich gelehrt, dass der Mut keines Menschen vollkommen
ist, dass es stets jemanden gibt, von dem er sich den Schneid abkaufen lässt.
Der andere Vorfall
während meines Besuchs war dieser: Als wir Bemerkungen über unser Alter tauschten,
bekannte ich, dass ich zweiundvierzig, und Hay, dass er vierzig sei. Daraufhin
fragte er, ob ich angefangen hätte, meine Autobiographie zu schreiben, und ich
verneinte. Er meinte, ich solle sofort damit beginnen, zwei Jahre hätte ich bereits
verloren. Dann sagte er in etwa Folgendes:
»Mit vierzig erreicht ein Mann den Gipfelpunkt
seines Lebens und steuert von dort bergab dem Sonnenuntergang entgegen. In diesem
Alter ist der gewöhnliche Mann, der durchschnittliche Mann, um nicht allzu genau zu
sein und zu sagen: der gemeine Mann, entweder erfolgreich gewesen oder gescheitert;
in beiden Fällen liegt alles in seinem Leben, was aufzeichnenswert sein dürfte,
hinter ihm; und in beiden Fällen ist dieses gelebte Leben würdig, niedergeschrieben
zu werden, und kann gar nicht anders als interessant sein, sofern er der Wahrheit
über sich selbst so nahe kommt, wie er es vermag. Und gegen seinen Willen
wird
er die Wahrheit über sich erzählen, denn zum Schutze des Lesers
werden seine Fakten und seine Fiktionen getreulich zusammenarbeiten; jeder Fakt und
jede Fiktion wird ein Farbtupfer am rechten Ort sein, und gemeinsam werden sie sein
Porträt malen; nicht das
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