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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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Porträt, von dem
er
glaubt, dass sie es malen,
     sondern sein wahres Porträt, sein Innerstes, seine Seele, seinen Charakter. Ohne
     lügen zu wollen, wirder die ganze Zeit lügen; nicht unverblümt,
     nicht bewusst, auch nicht stumpfsinnig unbewusst, sondern halbbewusst – ein
     Bewusstsein im Zwielicht; in einem weichen, sanften und gnädigen Zwielicht, das
     seine allgemeine Gestalt anmutig erscheinen lässt, so dass seine tugendhaften
     Vorsprünge und Ausbuchtungen kenntlich werden und seine schroffen im Schatten
     liegen. Seine Wahrheiten werden als Wahrheiten erkennbar sein, seine Eingriffe in
     die Fakten, die eigentlich gegen ihn sprechen würden, nicht zählen, der Leser wird
     die Fakten durch den Firnis hindurch sehen und den Mann erkennen. Autobiographische
     Schriften haben etwas subtil Teuflisches, das alle Versuche des Schriftstellers,
     sein Porträt auf
seine
Weise zu malen, vereitelt.«
    Hay war der Meinung, er
     und ich seien gewöhnliche, durchschnittliche, gemeine Menschen, und ich verübelte
     ihm sein Urteil mich betreffend nicht, sondern leckte stumm meine Wunden. Seine
     Vorstellung, dass wir unsere Arbeit im Leben getan und den Gipfelpunkt überschritten
     hätten und dass es nun bergab ginge, nach Westen zu, dass ich ihm zwei Jahre voraus
     war und keiner von uns beiden weiterhin als Beglücker der Menschheit tätig sein
     könnte, war ein großer Irrtum. Damals hatte ich vier Bücher geschrieben, vielleicht
     fünf. Seitdem habe ich die Welt Band für Band in literarischer Weisheit ertränkt;
     seit dem Sonnenuntergang jenes Tages hat er’s zum Biographen von Mr. Lincoln
     gebracht, und sein Buch wird niemals untergehen; er ist Botschafter gewesen, ein
     glänzender Redner, ein fähiger und bewundernswerter Außenminister, und er würde
     nächstes Jahr Präsident werden, wenn wir eine hinlänglich ehrliche und dankbare
     Nation wären statt einer undankbaren Nation, die meist nicht gewillt gewesen ist,
     ein Staatsoberhaupt aus Gold anzustreben, wenn sie eines aus Blech haben kann.
    Zwei Jahre hatte ich
     schon verloren, aber ich beschloss, diesen Verlust wettzumachen. Ich beschloss,
     unverzüglich mit meiner Autobiographie zu beginnen. Ich begann auch tatsächlich,
     aber meine Entschlossenheit schmolz dahin und schwand binnen einer Woche, und ich
     verwarf den Anfang. Seitdem habe ich ungefähr alle drei oder vier Jahre einen
     Neuanfang gemacht und noch jeden verworfen. Einmal wagte ich das Experiment eines
     Tagebuchs, um es zu einer Autobiographie aufzublasen, sobald ich genügend Material
     beisammenhätte, doch das Experiment dauerte nur eine Woche;ich
     brauchte immer die halbe Nacht, um die Ereignisse des Tages festzuhalten, und am
     Ende der Woche sagte mir das Ergebnis nicht zu.
    In den letzten acht oder zehn Jahren habe ich
     mehrere Versuche unternommen, die Autobiographie auf die eine oder andere Weise mit
     der Feder zu schreiben, doch das Resultat befriedigte mich nicht, es war zu
     literarisch. Mit der Feder in der Hand ist das Erzählen eine schwierige Kunst; eine
     Erzählung sollte fließen, so wie ein Bach durch Hügel und Laubwälder fließt; mit
     jedem Felsen, auf den er trifft, und mit jedem grasbewachsenen, kiesigen Vorsprung,
     der in seinen Weg ragt, verändert sich sein Lauf; der Wasserspiegel zerbricht, indes
     halten Felsen und Geröll auf dem Grund der Untiefen seinen Lauf nicht auf; ein Bach,
     der nicht eine Minute lang gerade verläuft, der aber
läuft,
und zwar
     schnell läuft, manchmal ungrammatisch, der manchmal eine Dreiviertelmeile ein
     Hufeisen mit sich führt und am Ende seines Kreislaufs nur einen Meter weit von dem
     Bett entfernt fließt, das er eine Stunde zuvor durchlaufen hat; immer aber
läuft
er, und immer folgt er wenigstens
einem
Gesetz, bleibt
     diesem Gesetz treu, dem Gesetz der
Erzählung,
die
kein Gesetz
     kennt
. Es bleibt nichts anderes zu tun, als die Reise zu unternehmen; nicht das
     Wie ist wichtig, sondern dass die Reise unternommen wird.
    Mit der Feder in der
     Hand ist der Erzählfluss ein Kanal; er bewegt sich langsam, ruhig, schicklich,
     schläfrig, hat keinen Makel außer dem, dass er der Makel
ist
. Er ist zu
     literarisch, zu spröde, zu gewissenhaft; Tempo, Stil und Bewegung eignen sich nicht
     zum Erzählen. Der Kanal reflektiert immer; das ist seine Natur, er kann nicht
     anders. Seine glatte, glänzende Oberfläche ist an allem interessiert, was am Ufer
     vorbeizieht: Kühe, Blätter, Blumen, alles. Und so

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