Meine geheime Autobiographie - Textedition
Porträt, von dem
er
glaubt, dass sie es malen,
sondern sein wahres Porträt, sein Innerstes, seine Seele, seinen Charakter. Ohne
lügen zu wollen, wirder die ganze Zeit lügen; nicht unverblümt,
nicht bewusst, auch nicht stumpfsinnig unbewusst, sondern halbbewusst – ein
Bewusstsein im Zwielicht; in einem weichen, sanften und gnädigen Zwielicht, das
seine allgemeine Gestalt anmutig erscheinen lässt, so dass seine tugendhaften
Vorsprünge und Ausbuchtungen kenntlich werden und seine schroffen im Schatten
liegen. Seine Wahrheiten werden als Wahrheiten erkennbar sein, seine Eingriffe in
die Fakten, die eigentlich gegen ihn sprechen würden, nicht zählen, der Leser wird
die Fakten durch den Firnis hindurch sehen und den Mann erkennen. Autobiographische
Schriften haben etwas subtil Teuflisches, das alle Versuche des Schriftstellers,
sein Porträt auf
seine
Weise zu malen, vereitelt.«
Hay war der Meinung, er
und ich seien gewöhnliche, durchschnittliche, gemeine Menschen, und ich verübelte
ihm sein Urteil mich betreffend nicht, sondern leckte stumm meine Wunden. Seine
Vorstellung, dass wir unsere Arbeit im Leben getan und den Gipfelpunkt überschritten
hätten und dass es nun bergab ginge, nach Westen zu, dass ich ihm zwei Jahre voraus
war und keiner von uns beiden weiterhin als Beglücker der Menschheit tätig sein
könnte, war ein großer Irrtum. Damals hatte ich vier Bücher geschrieben, vielleicht
fünf. Seitdem habe ich die Welt Band für Band in literarischer Weisheit ertränkt;
seit dem Sonnenuntergang jenes Tages hat er’s zum Biographen von Mr. Lincoln
gebracht, und sein Buch wird niemals untergehen; er ist Botschafter gewesen, ein
glänzender Redner, ein fähiger und bewundernswerter Außenminister, und er würde
nächstes Jahr Präsident werden, wenn wir eine hinlänglich ehrliche und dankbare
Nation wären statt einer undankbaren Nation, die meist nicht gewillt gewesen ist,
ein Staatsoberhaupt aus Gold anzustreben, wenn sie eines aus Blech haben kann.
Zwei Jahre hatte ich
schon verloren, aber ich beschloss, diesen Verlust wettzumachen. Ich beschloss,
unverzüglich mit meiner Autobiographie zu beginnen. Ich begann auch tatsächlich,
aber meine Entschlossenheit schmolz dahin und schwand binnen einer Woche, und ich
verwarf den Anfang. Seitdem habe ich ungefähr alle drei oder vier Jahre einen
Neuanfang gemacht und noch jeden verworfen. Einmal wagte ich das Experiment eines
Tagebuchs, um es zu einer Autobiographie aufzublasen, sobald ich genügend Material
beisammenhätte, doch das Experiment dauerte nur eine Woche;ich
brauchte immer die halbe Nacht, um die Ereignisse des Tages festzuhalten, und am
Ende der Woche sagte mir das Ergebnis nicht zu.
In den letzten acht oder zehn Jahren habe ich
mehrere Versuche unternommen, die Autobiographie auf die eine oder andere Weise mit
der Feder zu schreiben, doch das Resultat befriedigte mich nicht, es war zu
literarisch. Mit der Feder in der Hand ist das Erzählen eine schwierige Kunst; eine
Erzählung sollte fließen, so wie ein Bach durch Hügel und Laubwälder fließt; mit
jedem Felsen, auf den er trifft, und mit jedem grasbewachsenen, kiesigen Vorsprung,
der in seinen Weg ragt, verändert sich sein Lauf; der Wasserspiegel zerbricht, indes
halten Felsen und Geröll auf dem Grund der Untiefen seinen Lauf nicht auf; ein Bach,
der nicht eine Minute lang gerade verläuft, der aber
läuft,
und zwar
schnell läuft, manchmal ungrammatisch, der manchmal eine Dreiviertelmeile ein
Hufeisen mit sich führt und am Ende seines Kreislaufs nur einen Meter weit von dem
Bett entfernt fließt, das er eine Stunde zuvor durchlaufen hat; immer aber
läuft
er, und immer folgt er wenigstens
einem
Gesetz, bleibt
diesem Gesetz treu, dem Gesetz der
Erzählung,
die
kein Gesetz
kennt
. Es bleibt nichts anderes zu tun, als die Reise zu unternehmen; nicht das
Wie ist wichtig, sondern dass die Reise unternommen wird.
Mit der Feder in der
Hand ist der Erzählfluss ein Kanal; er bewegt sich langsam, ruhig, schicklich,
schläfrig, hat keinen Makel außer dem, dass er der Makel
ist
. Er ist zu
literarisch, zu spröde, zu gewissenhaft; Tempo, Stil und Bewegung eignen sich nicht
zum Erzählen. Der Kanal reflektiert immer; das ist seine Natur, er kann nicht
anders. Seine glatte, glänzende Oberfläche ist an allem interessiert, was am Ufer
vorbeizieht: Kühe, Blätter, Blumen, alles. Und so
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