Meine geheime Autobiographie - Textedition
– neunzehn Zwanzigstel des Buches erst nach meinem Tod in Druck gehen.
Aus gutem Grund spreche ich aus dem Grab statt mit lebendiger Zunge: So kann ich frei reden. Wenn ein Mann ein Buch schreibt, das sich mit seinem Privatleben befasst – ein Buch, das gelesen werden soll, während er noch am Leben ist –, scheut er davor zurück, seine Meinung ganz freimütig zu äußern; alle seine Versuche, dies zu tun, schlagen fehl, und er erkennt, dass er etwas probiert, was einem Menschen ganz und gar unmöglich ist. Das aufrichtigste, offenste und privateste Produkt des menschlichen Verstandes und Herzens ist ein Liebesbrief; der Schreiber bezieht seine grenzenlose Freiheit der Äußerung und des Ausdrucks aus dem Gefühl, dass kein Fremder je sehen wird, was er da schreibt. Manchmal wird dieses Versprechen irgendwann gebrochen; und wenn er seinen Brief gedruckt sieht, ist ihm äußerst unbehaglich zumute, und er erkennt, dass er sich niemals mit demselben Maß an Aufrichtigkeit offenbart hätte, hätte er gewusst, dass er für die Öffentlichkeit schreibt. Er kann in dem Brief nichts finden, was nicht wahr, aufrichtig und ehrenwert wäre, dennoch wäre er weit zurückhaltender gewesen, wenn er gewusst hätte, dass er für den Druck schreibt.
Mir schien, ich könnte so frank und frei und schamlos wie ein Liebesbrief sein, wenn ich wüsste, dass das, was ich schreibe, niemand zu Gesicht bekommt, bis ich tot und nichtsahnend und gleichgültig bin.
II
Meine Herausgeber, Erben und Rechtsnachfolger sind hiermit angewiesen, in der ersten Auflage sämtliche Charakterisierungen von Freunden und Feinden auszulassen, die die Gefühle der charakterisierten Personen oder ihrer Familien und Verwandten kränken könnten. Dieses Buch ist kein Rachefeldzug. Wenn ich unter jemandem ein Feuer anzünde, dann nicht nur wegen des Vergnügens, das es mir bereitet, diesen Menschen braten zu sehen, sondern weil er die Mühe lohnt. Es handelt sich also um ein Kompliment, eine Auszeichnung; möge er es mir danken und den Mund halten. Die Kleinen, die Gemeinen, die Unwürdigen brate ich nicht.
In der ersten, zweiten, dritten und vierten Auflage müssen alle vernünftigen Meinungsäußerungen ausgelassen werden. In einem Jahrhundert mag es einen Markt für derartige Waren geben. Es besteht keine Eile. Warten wir’s ab.
III
Die Auflagen sollten im Abstand von fünfundzwanzig Jahren erscheinen. Viele Dinge, die in der ersten ausgelassen werden müssen, werden für die zweite geeignet sein; viele Dinge, die in beiden ausgelassen werden müssen, werden für die dritte geeignet sein; in der vierten – oder zumindest der fünften – kann die ganze Autobiographie ungekürzt erscheinen.
Mark Twain
[Florentiner
Diktate]
Hier beginnen die Florentiner Diktate
[John Hay]
Florenz, Italien, 31. Januar 1904
Vor einem
Vierteljahrhundert besuchte ich John Hay, den heutigen Außenminister, in New York,
und zwar in Whitelaw Reids Haus, das Hay einige Monate lang bewohnte, während Reid
in Europa Ferien machte. Hay gab, ebenfalls vorübergehend, Reids Zeitung heraus, die
New York Tribune
. Zwei Vorfälle von jenem Sonntag sind mir besonders
gut in Erinnerung geblieben, und ich glaube, ich werde sie hier verwenden, um etwas
zu veranschaulichen, was mir am Herzen liegt. Einer der Vorfälle ist nebensächlich,
und ich weiß kaum, weshalb er sich so viele Jahre in meinem Kopf festgesetzt hat.
Ich muss ihn mit ein, zwei Worten einleiten. Ich kannte John Hay schon viele Jahre.
Ich kannte ihn, als er noch ein unbedeutender junger Leitartikler für die
Tribune
zur Zeit Horace Greeleys war und das Drei- oder Vierfache des
Gehalts verdient hätte, das er bezog, wenn man die Qualität der Arbeiten bedenkt,
die seiner Feder entstammten. In jener Anfangszeit war er ein Bild von einem Mann:
schöne Gesichtszüge, vollendete Gestalt, anmutige Körperhaltung und Bewegung. Er
verströmte einen Charme, der mir, dem unwissenden und unerfahrenen Weststaatler,
ungewöhnlich vorkam – einen Charme des Auftretens, der Satzmelodie, der offenbar
natürlichen, nicht angelernten Ausdrucksweise und so fort –, dessen Grundlage
angeboren und dessen Ungezwungenheit, Schliff und gewinnende Natürlichkeit in Europa
erworben waren, wo er als Chargé d’Affaires am Wiener Hof gearbeitet hatte. Er war
fröhlich und herzlich, ein höchst angenehmer Zeitgenosse.
Jetzt komme ich zur Sache. John Hay
fürchtete sich nicht vor Horace
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