Meine geheime Autobiographie - Textedition
Epoche. Die Jungen hießen Levin. Wir hatten einen
gemeinsamen Kosenamen für die beiden – die einzige wirklich große und hübsche Witzelei, die je aus
diesem Kongresswahlbezirk hervorging. Wir nannten sie »Zweiundzwanzig« – und selbst als der Scherz
schon alt und abgedroschen war, ließen wir, um sicherzugehen, dass ihn auch jeder verstand, stets
die Erklärung folgen: »Zwei mal Levin – zweiundzwanzig.« 21
Es gab andere Jungen, deren Namen mir heute noch gegenwärtig sind.
Irving Ayres – aber was soll’s, er ist tot. Dann war da noch George Butler, ich erinnere mich an ihn
als siebenjähriges Kind, das einen blauen Ledergürtel mit einer Messingschnalle trug und deswegen
von allen Jungen gehasst und beneidet wurde. Er war ein Neffe von General Ben Butler und kämpfte
ehrenvoll in dem Gefecht bei Balls Bluff und in mehreren anderen Schlachten des Bürgerkriegs. Auch
er ist lange, lange tot.
Will
Bowen (lange tot), Ed Stevens (lange tot) und John Briggs waren enge Freunde von mir. John lebt
noch.
1845, ich war zehn Jahre
alt, brach in der Stadt eine Masernepidemie aus, die ein beängstigendes Gemetzel unter den Kleinen
anrichtete. Fast täglich gab es ein Begräbnis, und die Mütter der Stadt waren fast wahnsinnig vor
Angst. Meine Mutter war höchst beunruhigt. Sie machte sich Sorgen um Pamela, Henry und mich und
verwendete die größte Mühe darauf, uns vor einer Ansteckung zu schützen. Doch genaues Nachdenken
brachte mich zu der Vermutung, dass sie nicht die Richtige dafür wäre. Mir schien, dass ich meine
Lage verbessern könnte, wenn ich mir selbst überlassen bliebe. Ob ich mich vor den Masern fürchtete,
weiß ich nicht mehr, kann mich aber noch deutlich daran erinnern, dass ich die Anspannung, unter der
ich der ständigen Lebensgefahr wegen litt, bald leid war. Ich weiß noch, dass ich ihrer überdrüssig
wurde und es nicht erwarten konnte, bis die Sache so oder so entschieden war, und zwar rasch, und
dass mir meine Ungeduld die Tageund die Nächte verdarb. Ich konnte sie nicht
mehr genießen. Und so beschloss ich, der Anspannung ein für alle Mal ein Ende zu machen. Will Bowen
war schwer an Masern erkrankt, und ich wollte zu ihm gehen und mir welche einfangen. Ich betrat das
Haus durch den Vordereingang, schlich mich durch Zimmer und Gänge, stets auf der Hut, um nicht
entdeckt zu werden, erreichte schließlich Wills Schlafzimmer im ersten Stock im hinteren Teil des
Hauses und betrat es unentdeckt. Hier allerdings endete mein Sieg. Einen Augenblick später erwischte
mich seine Mutter, zerrte mich aus dem Haus, hielt mir eine tüchtige Gardinenpredigt und jagte mich
fort. Sie war so erschrocken, dass sie die Worte kaum herausbrachte, und ihr Gesicht war kreideweiß.
Ich sah ein, dass ich es das nächste Mal besser anstellen musste, und das tat ich auch. Ich lungerte
auf dem Weg hinter dem Haus herum und spähte durch die Ritzen im Zaun, bis ich mich davon überzeugt
hatte, dass die Umstände günstig waren; daraufhin stahl ich mich durch den hinteren Garten ins Haus
und über die Hintertreppe in den ersten Stock, gelangte, ohne ertappt zu werden, in Will Bowens
Zimmer und legte mich zu ihm ins Bett. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich in dem Bett lag. Ich weiß
nur noch, dass Will Bowens Gesellschaft keinen Wert für mich hatte, denn er war zu krank, um meine
Anwesenheit zu bemerken. Als ich seine Mutter kommen hörte, zog ich mir die Decke über den Kopf,
aber diese List war ein Misserfolg. Es war Hochsommer – die Decke nicht mehr als ein schlaffes Laken
oder Tuch, und jeder sah gleich, dass zwei Knaben darunterlagen. Es blieben nicht lange zwei. Mrs.
Bowen zerrte mich aus dem Bett und brachte mich eigenhändig nach Hause, mit einem Griff an meinem
Kragen, den sie nicht ein einziges Mal lockerte, bis sie mich den Händen meiner Mutter übergeben
hatte, zusammen mit ihrer Meinung über solch einen Jungen.
Es endete mit einer ordentlichen Masernerkrankung. Sie führte mich
bis an die Schwelle des Todes. Sie führte mich an einen Ort, wo ich mich für nichts mehr
interessierte, vielmehr die völlige Abwesenheit von Interesse verspürte – ein ausgesprochen ruhiger,
friedlicher, wunderbarer und betörender Zustand. In meinem ganzen Leben habe ich nie wieder etwas so
genossen wie damals das Sterben. Und ich lag
tatsächlich
im Sterben. Die Nachricht hatte
sich herumgesprochen, und die Familie war gebeten worden, sich anmeinem Bett
zu versammeln, um sich zu verabschieden. Ich erkannte sie
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