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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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dem denkwürdigen Vorfall. Ich dachte, er werde sich noch die letzten
Zähne aus dem Mund lachen. Nie zuvor war ich so stolz und glücklich gewesen und war es auch seitdem
nur selten. Als ich vor vier Jahren dort war, sah ich ihn wieder. Er arbeitete in einem
Zigarrengeschäft. Er trug eine Schürze, die ihm bis zu den Knien reichte, und einen fast halb so
langen Bart, und doch war er unschwer wiederzuerkennen. Er war seit vierundfünfzig Jahren
verheiratet. Er hatte zahlreiche Kinder, Enkel und Urenkel – sogar Tausende Nachkommen, wie es
allgemein hieß –, und doch steckte in diesem vergnügten kleinen alten Mann noch immer der Junge, dem
ich, als wir unreife Bürschchen waren, die Katzengeschichte erzählt hatte.
    Nicht lange nachdem sie mich abgewiesen
hatte, heiratete Artimisia Briggs. Sie heiratete Richmond, den Steinmetzen, der in frühesten
Kindertagen mein methodistischer Sonntagsschullehrer gewesen war und der ein Merkmal hatte, um das
ich ihn beneidete: Irgendwann hatte er sich mit dem Hammer auf den Daumen geschlagen, und das
Ergebnis war ein Daumennagel, der für immer verkrümmt, verformt und verbogen war, spitz wie ein
Papageienschnabel. Heute würde ich ihn wohl nicht mehr für eine Zierde halten, aber damals
faszinierte er mich und erschien mir unendlich wertvoll, war er doch der einzige in der Stadt. Mr.
Richmond war ein sehr freundlicher und fürsorglicher Sonntagsschullehrer, geduldig und
teilnahmsvoll, weshalb er der Lieblingslehrer von uns kleinen Bürschchen war. In der Schule gab es
schmale, rechteckige blaue Pappkärtchen, bedruckt mit einem Vers aus dem Testament, und wenn man
zwei Verse aufsagen konnte, erhieltman eines dieser blauen Kärtchen. Sagte man
fünf Verse auf, bekam man drei blaue Kärtchen, und für die konnte man sich aus dem Bücherschrank ein
Buch ausleihen, das man eine Woche lang behalten durfte. Zwei, drei Jahre hindurch geriet ich immer
wieder unter Mr. Richmonds spirituelle Obhut, und er war nie streng mit mir. Jeden Sonntag sagte ich
dieselben fünf Verse auf. Jedes Mal war er mit meiner Leistung zufrieden. Es schien ihm gar nicht
aufzufallen, dass es stets dieselben fünf törichten Jungfrauen waren, von denen er jeden Sonntag
hörte, und das nun schon seit Monaten. Stets erhielt ich meine Kärtchen und tauschte sie gegen ein
Buch ein. Die Bücher waren ziemlich langweilig, denn im ganzen Bücherschrank gab es nicht einen
Lausbuben. Allesamt waren es brave Jungen und brave Mädchen und alle schrecklich uninteressant, aber
immer noch besser als nichts, und ich war froh, in ihrer Gesellschaft sein und sie missbilligen zu
können.
    Vor zwanzig Jahren war Mr.
Richmond plötzlich wie besessen von Tom Sawyers Höhle in den Bergen drei Meilen vor der Stadt und
machte einen Touristenort daraus. Aber jetzt gehört die Höhle der Vergangenheit an. Als 1849 die
Goldsucher durch unsere kleine Stadt Hannibal zogen, wurden auch viele unserer erwachsenen Männer
und ich glaube alle Jungen vom Goldfieber gepackt. Im Sommer borgten wir uns an freien Samstagen die
kleinen Boote, deren Besitzer abwesend waren, und fuhren die drei Meilen flussabwärts bis zur
»Höhlensenke« (missourisch für »Tal«), wo wir Claims absteckten und vorgaben, nach Gold zu graben,
und anfangs einen halben Dollar pro Tag verdienten; später zwei- bis dreimal so viel und, je mehr
sich unsere Vorstellungskraft an die Arbeit gewöhnte, nach und nach ganze Vermögen. Dumme,
unprophetische Jungs! Wir spielten nur und ahnten nichts. Die Höhlensenke und all die benachbarten
Hügel waren aus Gold! Aber das wussten wir nicht. Wir hielten es für Erde. Wir überließen sie
mitsamt ihrem reichen Geheimnis sich selbst, wuchsen in Armut auf, durchwanderten die Welt und
mühten uns um Brot – und all das nur, weil uns die Gabe der Weissagung fehlte. Für uns bestand die
ganze Gegend aus Erde und Gestein, dabei brauchte man sie nur aufzugraben und fachgerecht zu
behandeln, und schon war es Gold. Will sagen, die ganze Gegend war eine einzige Zementmine – und
jetzt wird dort feinster Portlandzement hergestellt,fünftausend Fässer am Tag
in einer Anlage, die zwei Millionen Dollar gekostet hat.
    Vor einigen Monaten erhielt ich von dort ein Telegramm, in dem es
hieß, Tom Sawyers Höhle werde mittlerweile zu Zement verarbeitet, ob ich mich nicht öffentlich dazu
äußern wolle. Aber ich hatte nichts dazu zu sagen. Der Verlust unserer Zementmine tat mir leid, aber
es lohnte sich nicht, zu einem so späten Zeitpunkt noch

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