Meine geheime Autobiographie - Textedition
vergeudet er eine Menge Zeit mit
Reflexionen.
Notizen zu Die Arglosen im Ausland
Diktiert in Florenz, Italien, April 1904
Ich will mit einer
Bemerkung zur Widmung beginnen. Ich schrieb das Buch in den Monaten März und April
1868 in San Francisco. Es wurde im April 1869 veröffentlicht. Drei Jahre später kam
Mr. Goodman aus VirginiaCity, Nevada, für dessen Zeitung ich
zehn Jahre zuvor gearbeitet hatte, zur Ostküste, und wir spazierten gerade den
Broadway entlang, als er sagte:
»Wie kommt es, dass Sie Oliver Wendell Holmes’
Widmung gestohlen und in Ihr eigenes Buch gesetzt haben?«
Ich gab eine
unbekümmerte und leichtfertige Antwort, denn ich nahm an, dass er scherzte. Aber er
versicherte mir, dass er es ernst meinte. Er sagte:
»Ich diskutiere nicht die Frage,
ob
Sie
sie gestohlen haben oder nicht – denn das ist eine Frage, die sich in der erstbesten
Buchhandlung klären lässt, die wir betreten –, ich frage Sie nur,
wie
Sie
dazu gekommen sind, sie zu stehlen, allein darauf richtet sich meine Neugier.«
Mit dieser Information
konnte ich ihm nicht dienen, da ich sie nicht vorrätig hatte. Ich hätte einen Eid
schwören können, dass ich nichts gestohlen hatte, insofern war meine Eitelkeit nicht
gekränkt und mein Geist nicht beunruhigt. Im Grunde genommen vermutete ich, dass er
mein Buch mit einem anderen verwechselt hatte, sich in eine ausweglose Lage
manövrierte und Kummer für sich und Triumph für mich bringen würde. Wir betraten
eine Buchhandlung, und er fragte nach den
Arglosen im Ausland
und nach der
hübschen kleinen blau-goldenen Ausgabe der Gedichte von Dr. Oliver Wendell Holmes.
Er schlug die Bücher auf, zeigte mir die Widmungen und sagte:
»Lesen Sie. Es ist
offensichtlich, dass der Autor des zweiten Buches aus dem ersten gestohlen hat,
oder?«
Ich war
sehr beschämt und unsagbar erstaunt. Wir setzten unseren Spaziergang fort, aber ich
war außerstande, seine ursprüngliche Frage auch nur um einen Schimmer zu erhellen.
Ich konnte mich nicht daran erinnern, Dr. Holmes’ Widmung jemals gesehen zu haben.
Die Gedichte kannte ich, aber die Widmung war mir neu.
Erst Monate später kam
ich diesem Geheimnis auf die Spur, und das auf seltsame und doch natürliche Weise;
denn die natürliche Weise, welche Charakter und Beschaffenheit des menschlichen
Geistes für die Aufdeckung eines vergessenen Ereignisses bereithalten, besteht
darin, sich zu seinem Wiederaufleben eines weiteren vergessenen Ereignisses zu
bedienen.
Ich
erhielt einen Brief von Rev. Dr. Rising, der zu meiner Zeit in VirginiaCity Pfarrer der Episkopalkirche gewesen war. In diesem Brief
bezog sich Dr. Rising auf gewisse Dinge, die uns sechs Jahre zuvor auf den
Sandwichinseln widerfahren waren; unter anderem erwähnte er beiläufig die Defizite
des Honolulu-Hotels in puncto Literatur. Zuerst verstand ich die Tragweite der
Bemerkung nicht, sie rief mir nichts ins Gedächtnis zurück. Dann aber – blitzte eine
Erinnerung auf! In Mr. Kirchhofs Hotel hatte es nur ein Buch gegeben, und das war
der erste Band von Dr. Holmes’ blau-goldener Reihe gewesen. Vierzehn Tage lang hatte
ich Gelegenheit gehabt, mich mit dessen Inhalt vertraut zu machen, denn ich war auf
der großen Insel (Hawaii) umhergeritten und hatte so viele Sattelgeschwüre
mitgebracht, dass es mich, wäre eine Zollabgabe darauf erhoben worden, ruiniert
hätte, sie zu entrichten. Zwei Wochen hielten sie mich auf meinem Zimmer fest,
unbekleidet, unter ständigen Schmerzen und ohne jede Gesellschaft, abgesehen von
Zigarren und dem kleinen Band Gedichte. Natürlich las ich sie fast ununterbrochen;
ich las sie von Anfang bis Ende, dann las ich sie in umgekehrter Richtung, dann
begann ich in der Mitte und las sie vor und zurück, dann las ich sie vom falschen
Ende und auf den Kopf gestellt. Mit einem Wort, ich las das Buch, bis es
auseinanderfiel, und war der Hand, die es geschrieben hatte, unendlich
dankbar.
Hier
haben wir einen Beweis dafür, was Wiederholung bewirken kann, wenn sie über eine
beträchtliche Zeitspanne hinweg täglich und stündlich aufrechterhalten wird, wenn
man lediglich zur Unterhaltung liest, ohne jeden Gedanken oder die Absicht, das, was
man liest, im Gedächtnis zu behalten. Es ist ein Prozess, der einem vertrauten Vers
der Heiligen Schrift im Laufe der Jahre allen Lebenssaft raubt und nichts als eine
trockene Hülse zurücklässt. In
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