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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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unsere Aufmerksamkeit wiederholt auf seine schmucke Schädelform – dabei fällt mir ein, dass Gerhardt unten einen altenBowler des Generals in die Hand genommen und eine Bemerkung über die perfekte ovale Rundung der Innenseite gemacht hatte, das Oval sei so ebenmäßig, dass der Träger des Hutes nie wissen könne, ob er nun das richtige oder das verkehrte Ende vorn habe, während doch ein durchschnittlicher Männerkopf an einem Ende breit und am anderen schmal sei.
    Die Frau des Generals rückte den Kopf in verschiedene Positionen, von denen sie keine zufriedenstellte, und schließlich sagte sie zu ihm: »Ulyss! Ulyss! Kannst du die Füße nicht auf den Boden stellen?« Das tat er sogleich und richtete sich auf.
    Die ganze Zeit über trug das Gesicht des Generals einen freundlichen, zufriedenen, fast möchte ich sagen, wohlwollenden Ausdruck, aber nicht ein Mal öffnete er die Lippen. Wie so oft bot sein Schweigen reichlich Gelegenheit, darüber zu mutmaßen, was ihm wohl durch den Sinn ging – um es schließlich bei diesen Mutmaßungen bewenden zu lassen. Ich will beiläufig anmerken, dass die Hände des Generals äußerst schmal waren und viel deutlicher als sein Gesicht zeigten, wie sehr die Belagerung durch Bettlägerigkeit, Krankheit und unzureichende Nahrung ihn ausgezehrt hatte. Zu diesem Zeitpunkt litt er zunehmend starke Schmerzen, die der Krebs an seiner Zungenwurzel verursachte, doch solange er wach war, ließ er sich nichts davon an seinem Gesichtsausdruck ablesen. Hingegen nutzte sein Gesicht es aus, wenn er schlief, und gab die Tatsachen preis.
    Nach fünfzehn Minuten sagte Gerhardt, er glaube, die Mängel nunmehr beheben zu können. Daraufhin gingen wir wieder in das andere Zimmer.
    Gerhardt nahm die Arbeit an dem Tonbildnis auf, und alle standen um ihn herum, sahen ihm zu und diskutierten sein Werk mit größtem Interesse.
    In diesem Moment erstaunte uns der General damit, dass er, in seine Hüllen gekleidet, auftauchte, wobei er sich unsicher auf einen Stock stützte. Er setzte sich aufs Sofa und sagte, falls dies dem Künstler von Nutzen sei, könne er auch hier sitzen.
    Doch das wollte seine Frau nicht zulassen. Sie sagte, er könnte sich erkälten. Sie war dafür, ihn unverzüglich wieder zu seinem Krankenstuhl zu bringen. Er gab nach und schickte sich an zurückzugehen, doch an der Tür wandte er sich um und sagte:
    »Kann Mr. Gerhardt den Ton nicht hereinbringen und hier arbeiten?«
    Das war ein hundertfach größeres Glück, als es sich Gerhardt hätte erträumen können. Auf der Stelle trug er seine Arbeit ins Zimmer des Generals. Dieser streckte sich auf seinem Lehnstuhl aus, sagte jedoch, wenn diese Position nicht genehm sei, werde er sich gern aufsetzen. Gerhardt erwiderte, sie sei sehr genehm; besonders wenn sie für das Modell bequemer sei als andere.
    Mit einem Ausdruck offenkundigen Interesses verfolgte der General eine Zeitlang Gerhardts flinke und geräuschlose Finger; für jemanden, der so viele Wochen in öder Gleichförmigkeit und ohne nennenswerte Veränderung oder Ablenkung verbracht hatte, war diese neue Erfahrung zweifellos wertvoll. Bald aber fielen ihm von Zeit zu Zeit die Augen zu, woraufhin alle bis auf Gerhardt und mich das Zimmer verließen, und ich zog mich in den hinteren Teil des Zimmers zurück, wo ich außer Sichtweite war und nicht störte.
    Wenig später kam Harrison, der alte farbige Leibdiener des Generals, herein und sah Gerhardt eine Weile zu, dann rief er entschlossen und mit großem Eifer:
    »Das ist der General! Jawohl, Sir! Das ist der General! Sehen Sie nur! Ich sag’s Ihnen! Das ist der General!«
    Dann ging er wieder hinaus, und im Zimmer wurde es vollkommen still.
    Wenige Minuten später war der General eingeschlafen, zwei Stunden schlief er ganz friedlich, und nur gelegentlich wurde die Gelassenheit seines Gesichts von einer vorübergehenden Welle des Schmerzes gestört. Seit mehreren Wochen war es der erste Schlaf, den er ohne die Hilfe von Narkotika gefunden hatte.
    Meiner Meinung nach weist die Büste, die in dieser Sitzung vollendet wurde, mehr von General Grant auf als jedes andere Bildnis, das von ihm angefertigt worden ist, seit er Berühmtheit erlangt hatte. Ich glaube, man kann sie mit Fug und Recht das beste Porträt des Generals nennen, das es gibt. Sie zeigt auch, was der General in den langen Wochen jenes Frühlings durchlitt, und ist insofern eine stetige Mahnung an die Nation. Denn in das Tonbildnis sind die Schmerzen eingegangen,

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