Meine geheime Autobiographie - Textedition
erkannte ich, dass Gerhardt ein wahrer Künstler war, denn er war fest entschlossen, nichts dergleichen zu tun.
Ich kann es schon an dieser Stelle aussprechen, dann ist es heraus. In meiner Verbindung zu Gerhardt gab es von meiner Seite nur wenig Gefühl und keine wirkliche Zuneigung. Eigentlich nahm ich mich seiner nur an, weil ich überzeugt war, dass er das Zeug zu einem fähigen Bildhauer hatte. Ich adoptierte kein Kind, ich fügte meiner Familie kein weiteres Mitglied hinzu, ich nahm lediglich eine ganz normale Verpflichtung auf mich – die Verpflichtung, einem Mann zu helfen, der sich nicht selbst zu helfen wusste. Ich erwartete von ihm nicht, dass er dankbar sein und sich erkenntlich zeigen würde – meine Erfahrung mit den Menschen hatte mich seit langem gelehrt, dass es keinen sichereren Weg gibt, sich einen Feind zu machen, als einem Fremden eine Freundlichkeit zu erweisen, die ihm das lästige Gefühl einer Dankesschuld aufbürdet. Daher gab es in meiner Verbindung zu Gerhardt keine Gefühle oder wirkliche Zuneigung. Ich hatte ihm von vornherein gesagt, dass ich, sollte jemals der Zeitpunkt kommen, da er mir das Geld, das ich auf ihn verwandt hatte, zurückzahlen könne, und zwar ohne Schwierigkeiten für sich selbst, erwarten würde, es von seiner Hand zu empfangen, und dass wir,
wenn
es dann bezahlt wäre, quitt seien – einschließlich der Gefühle: Mit diesem Akt wäre er von jeder Dankesschuld mir gegenüber befreit. Es war gut, dass die Dinge gleich zu Beginn diese Form angenommen und sie auch beibehalten hatten, denn wenn unsere Verbindung auf Gefühle gegründet gewesen wäre, wären diese sofort umgeschlagen, sobald ich bemerkt hätte, dass er sich seinen Lebensunterhalt nicht in anderen Bereichen verdienen wollte, falls die Kunst ihm keinen Lebensunterhalt bot. Das hatte mich davor bewahrt, eine meiner Maximen auf seinen Fall anzuwenden, dass ein Mann, der es vorzieht, sich von einem anderen Mann ernähren zu lassen, statt in Unabhängigkeit zu verhungern, erschossen gehört.
Eines Abend tauchte Gerhardt in der Bibliothek auf, und ich hoffte, er wäre gekommen, um mir zu sagen, dass er in der Maschinenwerkstatt gutzurechtkomme und zufrieden sei; insofern war ich enttäuscht, als er sagte, er sei gekommen, um mir eine kleine Tonbüste von General Grant zu zeigen, die er nach einer Fotografie angefertigt habe. Ich war umso verärgerter, als ich noch nie ein Porträt des Generals gesehen hatte – ob Öl, Aquarell, Kreide, Stahl, Holz, Foto, Gips, Marmor oder sonst ein Material –, das mich zufriedengestellt hätte, und so rechnete ich nicht damit, dass jemand, der den General noch nie gesehen hatte, ein Bildnis zustande bringen könnte, das betrachtenswert wäre.
Doch als er die Büste enthüllte, verflüchtigten sich meine Vorurteile auf der Stelle. Das Ding war nicht in allen Details korrekt, und doch schien es den General besser zu treffen als jedes andere, das ich bis dahin gesehen hatte. Bevor Gerhardt die Büste enthüllte, hatte er gesagt, er habe sie in der Hoffnung hergebracht, ich könnte sie jemandem aus der Familie des Generals zeigen, damit dieser auf die größten zu korrigierenden Mängel hinweisen könnte; ich aber hatte ihm geantwortet, das könne ich nicht tun, gebe es doch bereits genug Leute, die seine Familie behelligten, und deren Zahl müsse ich nicht auch noch vermehren. Aber ein Blick auf die Büste hatte mich im Nu umgestimmt. Ich sagte, ich würde am nächsten Morgen nach New York fahren und die Familie bitten, sich die Büste anzusehen, und er müsse mitkommen und auf Abruf bereitstehen, falls sie Interesse daran zeige, auf Mängel hinzuweisen.
Am nächsten Tag um ein Uhr mittags erreichten wir das Haus des Generals, ich ließ Gerhardt und die Büste unten warten und stieg die Treppe hinauf, um die Familie aufzusuchen.
Und zum ersten Mal kam mir der Gedanke, ich könnte eine Dummheit begehen, die Familie sei ganz bestimmt schon so oft mit Angelegenheiten wie dieser behelligt worden, dass deren bloße Erwähnung ihr Übelkeit verursachen müsste. Aber was man angefangen hat, soll man auch zu Ende bringen. So erzählte ich ihnen, unten stünde ein junger Künstler, der nach einer Fotografie des Generals eine kleine Büste angefertigt habe, und ich wünschte, sie würden mir die Freundlichkeit erweisen, sie sich einmal anzusehen.
Jesse Grants Frau fragte voller Eifer: »Ist das der Künstler, der die in
Huckleberry
Finn
abgebildete Büste von Ihnen gemacht hat?«
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