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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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Komödianten. »Nigger« ist an ihnen gar nichts – nicht einmal die schwarze Schminke, denn die ist zu schwarz oder nicht die richtige Art; jedenfalls ahmt sie keine der in unseren Südstaaten bekannten Hautfarben nach, und es ist der amerikanische Neger, der hier vorgeblich dargestellt werden soll. Die Kostüme sind unglaublich. Sie ähneln keiner Kleidung, die je auf diesem Planeten oder sonst wo im Sonnensystem getragen worden ist. Diese armen Kerle geben eine »komische« Vorstellung, die so bescheiden und armselig und erbärmlich und kindisch und dämlich und unzulänglich ist, dass man sich der Menschheit schämt. Ach, ihre ängstlichen Tänze – und ihre ängstlichen Possen – und ihre verlegenen Versuche, lustige Grimassen zu schneiden – und ihre Cockney-Nigger-Songs und -Scherze – sie rühren einen, tun einem weh, erfüllen einen mit Mitleid, bringen einen zum Weinen. Ich vermute, in jedem anderen Dorf hätte man diese armen Minstrels ebenso wie die Komödianten barmherzigerweise aus dem Verkehr gezogen und ertränkt, nicht aber in London; London liebt sie; London hat ein großes warmes Herz, in dem Platz und Willkomm ist für den gesamten verdrießlichen Kehricht der Schöpfung.
    Die Einwohner aller Dörfer des gewaltigen London lieben Musik. Sie lieben sie mit einem Geschmack, der weit und offen ist, wie man es außer imHimmel nirgends kennt. Säßen sie dort oben, würden sie vor dem Gemeindegesang, der sonntags von unten herauftönt, nicht die Ohren verschließen. Jedes Geräusch ist für sie Musik. Und die genießen sie nicht etwa stumpfsinnig, sondern mit andächtiger und rückhaltloser Freude. Besonders wenn es traurige Musik ist. Und nirgendwo gibt es Menschen, die so freigebig mit ihrem Geld sind, wenn die Musik nur hinreichend traurig ist. In London ziehen an Sonntagnachmittagen arme, alte, zerlumpte Männer und Frauen durch die menschenleeren Straßen und singen mit schwacher, kratziger und keuchender Stimme – einer Stimme, die kaum kräftig genug ist, um auf die andere Straßenseite zu dringen – die herzzerreißendsten trostlosen Hymnen und schmerzlichen Liedchen, und die Dorfbewohner lauschen und sind dankbar und werfen Pennys aus den Fenstern, und in der tiefen Nachmittagsstille des Sabbats hört man die Münzen noch einen Häuserblock weiter aufs Pflaster fallen. Das Lied leiert so monoton und unmelodiös dahin wie das Schnarchen eines Kirchgängers bei einem sommerlichen Morgengottesdienst in der tiefsten Provinz, und ich finde, dass nichts trostloser und betrüblicher klingt. Aber es bringt Pennys – Pennys statt Ziegelsteinen; und man registriert diesen Umstand voller Überraschung und Enttäuschung; vielleicht ist es nicht eigentlich Enttäuschung, aber doch ein Mittelding zwischen Enttäuschung und Bedauern.
    Dennoch wird einem Achtung abgenötigt: teils vor dem vielseitigen Geschmack, der für solche Musik Platz hat, und teils vor dem Geist der Mildtätigkeit, der in der Brust desjenigen wohnt, der den Penny hinabwirft. Der Geist der Mildtätigkeit ist vorhanden, daran kann gar kein Zweifel bestehen. Nichts kommt dem Fremden so wunderbar vor wie die Großzügigkeit, mit der England Geld für wohltätige Zwecke ausschüttet. Offenbar sind etwa die Hälfte oder zwei Drittel dieser Zwecke wertlos, aber das macht nichts, das gehört nicht zur Sache. In vielen Fällen ist es der hinter den Gaben stehende Geist, der den Akt großherzig macht. Nicht in allen Fällen, möglicherweise nicht einmal in der Mehrheit der Fälle; doch lässt man einmal die zögerlichen und unfreiwilligen Spenden beiseite, gibt es noch genügend von der anderen Sorte, bei denen man staunt und bewundert und den Hut zieht.
    Der erste Überschwang wegen des nahenden Thronjubiläums der Queenließ jeden Engländer tief in die Tasche greifen, um für den Jahrestag Geld beizusteuern, und er hielt sich nicht zurück und leistete fröhlich seinen Beitrag. Die Menge dieser freiwilligen Spenden war ungeheuer, ja von monumentalem Ausmaß. Aber vielleicht können wir zu Recht annehmen, dass sie keineswegs so imposant war wie die Menge der unfreiwilligen Spenden, die ihr folgte. In jenen interessanten Monaten lebte ich in London. Die Zeitschriften boten dem unbeteiligten Fremden appetitliche Lektüre. Jeden Tag und am Tag danach, am übernächsten Tag und immer so weiter füllten Woche für Woche in stetiger und dichter Prozession Spendenaufrufe die Kolumnen und gaben einem das Gefühl, dass ganz England

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