Meine geheime Autobiographie - Textedition
vorübermarschierte und seinen Hut hinhielt – einen Hut und ein Hühnchen; den Hut in der einen Hand und das Hühnchen, das man zu rupfen hatte, in der anderen; auf einer Seite der gewaltigen Marschkolonne Hüte, die sich von Horizont zu Horizont erstreckten, auf der anderen Seite Hühnchen. Jeder schien ein Hühnchen zu rupfen zu haben und zu erkennen, dass seine Chance endlich gekommen war; dass ihm seine Beute nicht mehr entwischen konnte; dass Vorwände, die seine Beute für gewöhnlich schützen, ihn diesmal schädigen, ihn unpatriotisch erscheinen lassen und ihn vor seinen Nachbarn beschämen würden. Die Gelegenheit war die beste, die sich in der Geschichte je geboten hatte; und allem Anschein nach wurde sie mit erbarmungslosem und verheerendem Fleiß genutzt. Dubiose Leute, die sich hervortun wollten, dachten sich Gedenkprojekte aus, legten sie in den Zeitungen dar und reichten den Hut herum. Von diesen Projekten gab es unzählige, und sie waren von unbeschreiblicher Mannigfaltigkeit. Sie schienen jeden nur denkbaren Plan, ob weise oder nicht, einzuschließen, der unter irgendeinem Vorwand oder mit irgendeiner Ausrede als Gedenkveranstaltung für die Rekordherrschaft der Queen ausgegeben werden konnte – und für den Veranstalter warb. Auch prominente kluge Leute taten sich mit Projekten hervor; mit guten und würdigen Projekten, die nicht mit Schändlichkeit und Eigennutz behaftet waren. Dazu gehörten Statuen, Trinkbrunnen, öffentliche Parkanlagen, Kunstgalerien, Bibliotheken, Anstalten für die Irren, die Trinker, die Blinden, die Tauben, die Verkrüppelten, die Armen, die Alten, die Waisen, die Ausgestoßenen; kostenlose Einrichtungen für die Verbreitung aller Artenerbaulicher Kultur; Einrichtungen zur Ausbildung von Berufskrankenschwestern; Krankenhäuser jeder nur erdenklichen Art und sonder Zahl. Am Jubiläumstag hatten sich die gezeichneten Krankenhäuser und Krankenhausanbauten in einem Maße vervielfacht, dass die bloße Aufzählung ihrer Namen mehrere Oktavseiten mit Kleingedrucktem füllte! Die anhängigen Summen erreichten schwindelerregende Höhen. Obendrein und unabhängig davon brachte der einflussreiche Name des beliebten Prinzen von Wales einen Krankenhausfonds riesigen Ausmaßes zustande, der dazu diente, die Ausstattung der bereits bestehenden Londoner Krankenhäuser zu verbessern.
Man glaubt gern, dass England das Geld für diese großartigen Initiativen ohne oder zumindest ohne großes Widerstreben aufbrachte; vielleicht sogar mit derselben Spontaneität, mit der das Land den Hungeraufruf Indiens beantwortete, als es umgehend zweieinhalb Million Dollar hergab, obwohl der Aufruf in eine Zeit fiel, da die gesamte mit bloßem Auge oder mit dem Teleskop erkennbare Landschaft aus einer eintönigen Ebene von Hüten bestand, im Wetteifern um die Förderung von Gedenkprojekten hingehalten.
Nach den Aufrufen von Geistlichen in den Zeitungen zu urteilen, gab es in England damals nicht mehr als hundert Kirchen, die nicht schon seit einer ganzen Generation beschädigt waren und eine Gedenkreparatur benötigten; und überhaupt keine Kirche, die nicht irgendetwas benötigte, was sich zur Gedenkpflicht erheben ließ. Der Eifer der Kirche schien jeden anderen Eifer im Wettlauf um Gedenkgelder weit hinter sich zu lassen. Die Kirche plünderte England, wie sie es noch nie zuvor getan hatte und es bis zur nächsten Rekordherrschaft nicht wieder tun wird. Sie veranschlagte die Öffentlichkeit für alle ernsten und vermeintlich ernsten Projekte, die ihr in den Sinn kamen, und als diese Quelle versiegt war, behalf sie sich mit Humor. Ein zweiundneunzigjähriger und entsprechend unbekannter Landgeistlicher fiel tot um, woraufhin sogleich der Vorschlag erfolgte, einen Fonds für die Errichtung eines Denkmals zu schaffen – um seiner zu gedenken? Nein, um der Rekordherrschaft der Queen zu gedenken!
Es lässt sich nicht bestreiten, dass die Engländer in Belangen der Wohltätigkeit mit Abstand die freigebigste Nation der Welt sind. Da wir gerade davon reden – ab und zu, in großen Zeitabständen, hören wir von GeorgeMüller und seinen Waisenhäusern; dann verlieren wir sie aus dem Sinn und aus dem Gedächtnis und glauben schon, sie wären von der Erde verschwunden. Aber dem ist nicht so. Es gibt sie noch. Es gibt sie schon seit sechzig Jahren, und heute sind sie genauso lebendig wie eh und je. George Müller ist über neunzig Jahre alt, aber immer noch bei der Arbeit. Er war arm, als er sein erstes
Weitere Kostenlose Bücher