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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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gleichförmig vorüberzogen – ein Ausflug New Yorker Scheibenschützen auf der großen Bühne. In meiner Phantasie sah ich schon farbige Vereinsbrüder vor mir, die Eiskübel und Zielscheiben schleppten und sich den Schweiß von der Stirn wischten.
    Aber das hier war etwas ganz anderes. Eines der fesselndsten Spektakel derWelt ist eine Wagner’sche Operntruppe, die mit schmetternder Musik und fliegenden Fahnen auf die Bühne marschiert. Und genauso ein Spektakel war dies, nur unendlich vergrößert und bei herrlichem Sonnenschein und vor einer zahllosen Menschenmenge begeisterter Zuschauer, die mit Taschentüchern winkten und Hurrarufe ausstießen. Es war großartig, schön und prächtig; kein Flittergold, kein Schwindel; keine Blechrüstungen, kein Baumwollsamt, keine unechte Seide, keine Orientteppiche aus Birmingham; alles war, was es zu sein behauptete. Die Kostüme sind es, die einen Festzug ausmachen; und für diese Kostüme wurden sämtliche Jahrhunderte herangezogen, selbst Zeitalter, die schon uralt waren, als Kaiser Rudolf noch lebte.
    Es gab Truppenkörper von Lanzenträgern mit schlichten Eisenhelmen von vor tausend Jahren; andere Trupps mit dekorativeren Helmen aus späteren Jahrhunderten und mit Brustharnischen versehen; wieder andere Trupps in kunstvollen Kettenhemden – einige mit Armbrüsten, andere mit den frühesten Luntenschlössern bewaffnet; weitere Trupps mit phantastisch pittoresken Rüstungspanzern und großen Federhelmen aus der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts. Dann gab es Trupps von Rittern im reizenden Sammet des Mittelalters, gleich gewandete Edelleute zu Pferde – Wamse mit riesigen Puffärmeln, breitrandige Brigantenhüte mit großen Federbüschen; und prächtige wirkungsvolle Farben – Altgold, Schwarz und Scharlachrot; tiefes Gelb, Schwarz und Scharlachrot; Braun, Schwarz und Scharlachrot. Eine stattliche Gestalt, die so gekleidet ist, mit einem Bidenhänder, lang wie ein Billardstock, rittlings auf einem großen dekorierten Zugpferd, die prunkvollen Farben von Sonne überflutet – eine Gestalt wie diese, mit fünfzig in seinem Gefolge marschierenden Dubletten, ist allein schon Festzug genug.
    Dabei war dies nur ein Detail. Sämtliche Jahrhunderte zogen vorüber; zogen vorüber in Farbenpracht und einer Vielzahl seltsamer, malerischer, kurioser und herrlicher Kostüme, die man außer in der Oper und in Bilderbüchern in dieser Welt heute nicht mehr zu Gesicht bekommt. Und dann und wann tauchte mitten in dieser strömenden Flut von Gepränge eine ausgesprochen gegensätzliche Note auf – ein berittenes Komitee in Gesellschaftskleidung – Fracks, weißen Handschuhen und glänzenden neuen Zylindern; gleich hinterdrein an die hundert umhertollende Clowns in grellbuntenKostümen oder eine Gruppe samtgekleideter Pagen mit Dolchen und gefiederten Kappen aus alten Zeiten, die, zart wie Regenbogen, in fleischfarbenen Strumpfhosen entlangtänzelten, und zwar so geschickt, als wären sie dafür geboren und eigens dazu herangebildet.
    In Abständen große Festwagen mit Thron und hohem Baldachin, gepolstert in Seide, ausgelegt mit Orientteppichen und beladen mit Mädchen in Galakostümen. Es gab mehrere Militärkompanien in Uniformen verflossener Epochen – darunter eine, die anderthalb Jahrhunderte zurückliegt, und eine andere aus der Zeit und der Gegend von Andreas Hofer; darauf folgte eine große Kompanie Männer, Frauen und Mädchen in den Gesellschaftsmoden einer Periode, die sich vom Direktorium bis etwa 1840 erstreckte – sehr sehenswert. Unter den hübschesten, flottesten und malerischsten Trachten des Festzugs waren jene, in die Regimenter um Regimenter von Bauern aus Tirol, Böhmen und allen Teilen des Kaiserreichs gekleidet waren. Sie sind älteren Datums, werden aber auch heute noch getragen.
    Ich habe noch keinen Festzug gesehen, der mehr Begeisterung geweckt hätte als dieser. Jedes Land hätte seine Gefühle offenbart, bot er doch einen hinreißenden Anblick. Ende dieses Jahres werde ich dreiundsechzig, wenn ich noch lebe – und etwa genauso alt, wenn ich sterbe. Seit sechzig Jahren sehe ich mir Festumzüge an; und seltsamerweise fanden die schönsten in den vergangenen drei Jahren statt: einer 96 in Indien, dann der Festzug zum Rekordjubiläum der Queen letztes Jahr in London und nun dieser. Als ein Appell an die Einbildungskraft – als Anschauungsunterricht, der die Macht, Majestät und Ausdehnung des größten Imperiums zusammenfasste, das die Welt je gesehen hat

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