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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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eingefunden, und so fuhr ich doch. In Liesing, nach einer halben Stunde Fahrt, stiegen wir in einen sehr langenZug um und reisten vollbesetzt nach Wien. Es gab keinerlei Anzeichen, dass es ein großer Tag würde, denn die Leute hier sind nicht wählerisch, was Darbietungen betrifft, sie gehen zu allem, was des Weges kommt. Eine halbe Stunde später fuhren wir in die Stadt ein; nirgendwo sonderliche Betriebsamkeit – sogar weniger als an einem gewöhnlichen österreichischen Sonntag; Wimpelgeflatter und hier und da Dekorationen – ein recht häufiger Anblick in diesem Jubiläumsjahr; doch als wir an der amerikanischen Botschaft vorbeikamen, sah ich einige unserer Flaggen hängen, und der Gesandte und seine Diener waren eben dabei, eine weitere hinzuzufügen. Das rüttelte mich wach – schien es doch anzuzeigen, dass tatsächlich etwas Außergewöhnliches bevorstand.
    Als wir uns der Brücke näherten, die den 1. mit dem 3. Bezirk verbindet, machte sich zunehmend buntes Leben und Treiben bemerkbar; und als wir den großen Platz betraten, auf dem das Palais Schwarzenberg steht, herrschte bereits ein dichtes Gedränge. So weit das Auge reichte, war die breite Avenue des Parkrings auf beiden Seiten von Schaulustigen in ihrem Sonntagsstaat gesäumt. Unser Fiaker bahnte sich einen Weg über den Platz und sauste dann durch menschenleere Straßen bis zur Liebenberggasse 7 – dem Wohnhaus, zu dem wir wollten. Es steht Liebenberggasse, Ecke Parkring, und von seinen Balkonen aus hat man einen meilenweiten Blick die Prachtstraße hinunter. Kurz nach neun saßen wir mit einem Dutzend anderer Gäste im Schatten einer Markise auf dem Balkon im ersten Geschoss und warteten auf den Festzug. Dabei sollte er erst in einer Stunde beginnen und würde dann eine halbe Stunde später bei uns vorbeikommen. Zahlenmäßig würde es eine große Sache werden; den Berichten zufolge sollten an die 25   000 marschieren. Aber nicht die Zahlen machen die Faszination eines Festzuges aus; habe ich doch eine Unmenge ausgedehnter Umzüge gesehen, die sich nicht lohnten. Die Kostüme sind es, die einen Festzug ausmachen; sieht man einen mit dem richtigen Muster, kommt man auch ohne große Länge aus. Vor zwei, drei Monaten sah ich einen mit dem Kaiser und einem Erzbischof; der Erzbischof wurde auf einer Sänfte unter einem Baldachin getragen und hatte sein Scheitelkäppchen auf, der ehrwürdige Kaiser folgte ihm zu Fuß und war barhäuptig. Selbst wenn dies der ganze Festzug gewesen wäre, hätte er sichgelohnt. Inzwischen bin ich alt und werde vielleicht nie Kaiser werden – zumindest nicht in dieser Welt. Ich bin so viele Male enttäuscht worden, dass ich jedes Jahr skeptischer und resignierter werde; sollte es aber doch noch dazu kommen, wird mein Umzug dem Erzbischof etwas Neues bieten, denn er wird zu Fuß gehen.
    Die Warterei auf dem Balkon wurde uns nicht langweilig. Links und rechts sah man die großzügige Avenue, die sich bis in die Ferne erstreckte, mit ihrem Doppelwall dicht gedrängter Menschen, einer erwartungsvollen erregten Volksmenge, die da in der Sonne briet und ein Schauspiel bot, das man behaglich aus dem Schatten heraus verfolgen konnte. Das heißt, auf unserer Straßenseite standen sie in der Sonne, nicht jedoch auf der anderen Seite, wo sich der Park befindet – dort gab es dichten Schatten. Die Leute waren gutmütig, machten den Polizisten aber viel Mühe, da sie ständig auf den Fahrdamm hinausbrandeten und wieder zurückgedrängt werden mussten. Sie waren bester Stimmung, dabei hatten die meisten schon drei, vier Stunden lang in dem Getümmel ausgeharrt – und zwei Drittel von ihnen waren Frauen und Mädchen.
    Endlich kam ein einsamer berittener Polizist die Straße entlanggaloppiert – das erste Anzeichen, dass das Spektakel bald beginnen würde. Nach fünf Minuten folgte ihm ein Mann auf einem geschmückten Fahrrad. Als Nächster sprengte ein Adjutant des Zeremonienmeisters auf einem glänzend gestriegelten Rappen an uns vorbei. Fünf Minuten später ferne Musikklänge. Fünf weitere, und am unteren Ende der Straße blitzt die Spitze des Umzugs auf.
    Was für ein Umzug! Um nichts in der Welt hätte ich ihn verpassen mögen. Nach allem, was ich gehört hatte, setzte er sich aus Schützenvereinen aus dem gesamten Kaiserreich zusammen, mit ein, zwei Gastvereinen aus Frankreich und Deutschland. In meiner Vorstellung handelte es sich um 25   000 Männer in unauffälliger Kleidung, die, die Gewehre geschultert,

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