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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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sahen. De Cordova – ein Humorist – war der Mann, um dessentwillen wir uns Sorgen machten. Ich glaube, er hieß anders, aber ich habe vergessen, wie. In Zeitschriften hatte er einige kläglich komische Sachen veröffentlicht; durch sie war er populär geworden und hatte sich in weiten Kreisen einen Namen verschafft; und nun kam er zuunserer Überraschung plötzlich daher und wilderte in unserem Revier. Mehrere von uns fühlten sich ziemlich unwohl; so unwohl und folglich unfähig, ihren Vortrag zu halten. Wir verschoben unsere Engagements in der Umgebung und blieben in der Stadt. Wir – Nasby, Billings und ich – saßen in der ersten Reihe eines der großen Ränge und warteten. Das Haus war voll besetzt. Als De Cordova die Bühne betrat, wurde er, wie wir fanden, mit ziemlich übertriebenem Applaus von fast unanständiger Lautstärke empfangen. Ich glaube nicht, dass wir eifersüchtig waren, nicht einmal neidisch, aber uns wurde regelrecht schlecht. Als sich herausstellte, dass er eine humorvolle
Geschichte
lesen würde – vom Manuskript! –, fühlte ich mich zwar besser, ja hoffnungsvoll, aber immer noch beunruhigt. Als Pult hatte er ein Arrangement wie Dickens, einen hohen, mit Polstern verzierten Galgen, hinter dem er stand, unter einer Reihe verborgener Scheinwerfer, die oben angebracht waren. Das Ganze wirkte recht elegant und ziemlich eindrucksvoll. Das Publikum war so überzeugt, dass es lustig zugehen würde, dass es ein Dutzend der ersten Äußerungen für bare Münze nahm und herzlich lachte; in der Tat so herzlich, dass wir es kaum ertragen konnten und sehr niedergeschlagen waren. Aber ich glaubte immer noch daran, dass er scheitern würde, denn ich sah, dass er nicht wusste, wie man richtig liest. Allmählich begann das Gelächter nachzulassen; erst schrumpfte seine Ausdehnung; dann verlor es an Spontaneität; schließlich zeigten sich Lücken; die Lücken wurden größer; sie wurden noch größer; und noch größer; und immer noch größer. Schließlich gab es fast nur noch Lücken und Schweigepausen, durch die die ungeschulte leblose Stimme dröhnte. Dann saß das Publikum volle zehn Minuten wie tot und ohne Gefühlsregung da. Wir stießen einen tiefen Seufzer aus; es hätte ein Seufzer des Mitleids mit einem unterlegenen Handwerkskollegen sein sollen, aber das war es nicht – denn wir waren gemein und selbstsüchtig, wie die Menschheit nun einmal ist, und es war ein Seufzer der Genugtuung, weil wir unseren harmlosen Bruder scheitern sahen.
    Inzwischen mühte er sich verzweifelt ab; wischte sich mit seinem Taschentuch unablässig übers Gesicht, und seine Stimme und sein Verhalten wurden zu einer demütigen Bitte um Mitgefühl, Hilfe, Erbarmen, und er bot einengeradezu rührenden Anblick. Das Publikum jedoch blieb kalt und stumm und starrte ihn neugierig und verwundert an.
    Hoch oben an der Wand hing eine große Uhr; bald wandte sich die allgemeine Aufmerksamkeit vom Redner ab und dem Zifferblatt zu. Wir wussten aus trauriger Erfahrung, was das zu bedeuten hatte; wir wussten, was geschehen würde, aber es war klar, dass man den Redner nicht gewarnt hatte und er in völliger Unkenntnis war. Inzwischen ging es auf neun zu – die Hälfte des Publikums sah auf die Uhr, der Redner mühte sich weiter ab. Fünf Minuten vor neun standen zwölfhundert Menschen geschlossen auf und schwemmten wie eine Woge die Gänge hinunter zu den Türen! Der Redner war wie von einer Lähmung befallen; einige Augenblicke stand er würgend und keuchend da, blickte schreckensbleich auf diese Massenflucht, dann wandte er sich troslos ab und verließ die Bühne mit dem tastenden und unsicheren Schritt eines Schlafwandlers.
    Das Management war schuld daran. Man hätte ihm sagen sollen, dass die letzten Straßenbahnen in die Vororte um neun fuhren und die Hälfte des Publikums aufstehen und gehen würde, ganz gleich, wer da auf dem Podium sprach. Ich glaube, De Cordova ist nie wieder in der Öffentlichkeit aufgetreten.
    Es gab einen anderen Fall, wo ein Redner in der Music Hall einen Vortrag hielt, ohne ihn zuerst »am Hund erprobt« zu haben. Alle waren begierig, einen Blick auf Dr. Hayes zu werfen, der soeben aus der Arktis zurückgekehrt war und den Gipfel seiner Berühmtheit erreicht hatte. Er hatte seinen Vortrag sorgfältig ausgearbeitet und wollte ihn bis auf die ersten Sätze vom Manuskript ablesen. Diese ersten Sätze waren von blumiger Beredsamkeit, und er hatte sie auswendig gelernt in der Absicht, den

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