Meine geheime Autobiographie - Textedition
Roosevelt ist einer der liebenswertesten Männer, die ich kenne. Ichkenne ihn seit bestimmt zwanzig Jahren, bin ihm gelegentlich begegnet, habe in seiner Gesellschaft zu Abend und zu Mittag gegessen. Ich habe seine Gesellschaft immer genossen, so herzlich, so geradlinig, so freimütig und vollkommen aufrichtig ist er. Mit diesen Eigenschaften gewinnt er meine Zuneigung, wenn er als Privatbürger agiert – und mit ihnen gewinnt er die Zuneigung aller seiner Freunde. Doch wenn er als Präsident unter ihrem Einfluss agiert, machen sie einen hinlänglich sonderbaren Präsidenten aus ihm. In unglaublicher Eile saust er von einer Sache zur anderen – schlägt einen Purzelbaum und ist gleich darauf wieder dort, wo er in der Vorwoche war. Dann schlägt er noch mehr Purzelbäume, und niemand kann vorhersagen, wo er nach der ganzen Kür schließlich landen wird. Jede seiner Handlungen und jede geäußerte Meinung sind dazu angetan, eine frühere Handlung oder eine früher geäußerte Meinung aufzuheben oder ihr zu widersprechen. Als Präsident passiert ihm das die ganze Zeit. Zweifellos ist jede Meinung, die er äußert, in dem betreffenden Moment seine ehrliche Meinung, und ebenso zweifellos ist sie nicht die Meinung, die er vor drei oder vier Wochen mit sich herumgetragen hat und die genauso ehrlich und aufrichtig war wie die derzeitige. Nein, der Unaufrichtigkeit kann man ihn nicht zeihen – das ist nicht das Problem. Sein Problem besteht darin, dass es immer das neueste Interesse ist, das ihn in Anspruch nimmt; ihn ganz und gar, von Kopf bis Fuß in Anspruch nimmt und alle früheren Meinungen, Empfindungen und Überzeugungen vorübergehend auslöscht. Er ist der populärste Mensch, den es in den Vereinigten Staaten je gegeben hat, und seine Popularität entspringt ebendieser Begeisterungsfähigkeit, die ihm eigen ist – diesem freudigen Überschäumen enthusiastischer Aufrichtigkeit. Darin gleicht er allen anderen Menschen. Sie finden sich in ihm widergespiegelt. Und sie sehen, dass seine Affekte nur selten böse sind. Fast immer sind sie groß, schön und edel. Er kann nicht lange genug an einem dieser Affekte festhalten, um herauszufinden, was für ein Küken schlüpfen würde, wenn es denn eine Chance hätte, doch jeder erkennt seine edle Absicht, bewundert sie und liebt ihn dafür.
11. Januar 1906
Vor einigen Tagen erhielt ich den folgenden Brief von Mrs. Laura K. Hudson:
287 Quincy St.
3. Jan. 06
Mr. Samuel L. Clemens
Mein sehr geehrter Herr,
vor zwanzig Jahren standen wir in den ersten Jahren unseres Ehelebens; die ersten beiden kleinen Raten einer wachsenden Familie fesselten uns weitgehend ans Haus, und mein Mann und ich verbrachten unsere glücklichen Abende immer gemeinsam, indem er aus einer Zeitschrift oder einem Buch vorlas, während ich nähte und zuhörte. Eines Abends las er aus einer der New Yorker Zeitungen den Bericht über einen Empfang – ich habe die undeutliche Erinnerung, dass es ein Dinner des Press Club oder irgendein anderes großes Fest war –, auf dem »Mark Twain« einen Vortrag hielt, der mir das Beste und Komischste schien, was unser großer Favorit je geschrieben hatte. Und nun, da die wachsende Familie sich ausgewachsen und »Mark Twain« sehr liebgewonnen hat, habe ich überall, in jeder Sammlung seiner Werke, nach diesem entzückenden kleinen Spaß gesucht, doch stets vergeblich. Darf ich daher Mr. Clemens um Hilfe ersuchen?
Es ging um einen Grubenarbeiter in seiner Berghütte; zu diesem kommen drei Männer und bitten um Nahrung und Nachtlager. Sie stellen sich als Longfellow, Holmes und Whittier vor, und die Art, wie sie – der Letzterwähnte mit »Doppelkinnen bis hinunter zum Bauch« – von dem Grubenarbeiter, der die Geschichte erzählt, beschrieben werden, und die hochgestochenen Zitate aus ihren eigenen Schriften, mit denen sie auf die unwirschen und punktgenauen Fragen des Grubenarbeiters antworten, sind ein Spaß von der spaßigsten Sorte. Der Grubenarbeiter hält es aus, bis ihm der Pseudo-Holmes auf eine selbstzufriedene Bemerkung über seine gemütliche Hütte entgegnet: »Erbaue dir mehr prächt’ge Villen, o meine Seele!«, und so die ganze Strophe hindurch. Da schwillt er an in seinem Zorn und setzt die drei Dichter vor die Tür.
Wenn Sie auf Namen und möglichen Verbleib dieses entzückenden Kindes IhrerMuse etwas Licht werfen könnten, wären Ihnen sehr dankbar mein Mann, meine drei Söhne und deren »Mark Twain«-liebende Mutter, die um Erlaubnis
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