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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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eine wahre Fundgrube für Redetexte! Ich glaube, ein Redner könnte die Tageszeitung aus der Tasche ziehen und die Anwesenden in Grund und Boden reden, bevor ihm der Stoff ausginge. Wenn es der heutige Tag wäre, so hätte man den Morris-Zwischenfall. Und das erinnert mich daran, wie wenig aufregend der Morris-Zwischenfall in zwei, drei Jahren – vielleicht schon in sechs Monaten – sein wird und was für eine ärgerliche Sache er heute und in den letzten paar Tagen gewesen ist. Das macht eine wichtige Tatsache deutlich: dass die Ereignisse des Lebens überwiegend kleine Ereignisse sind – nur aus der Nähe betrachtet, erscheinen sie groß. Nach und nach legt sich der Staub, und dann erkennen wir, dass das eine das andere nicht überragt. Sie alle sind von gleich geringer Höhe und gleich belanglos. Wollte man, wie wir es jetzt tun, jeden Tag in Kurzschrift die Geschehnisse des vergangenen Tages festhalten, um aus dem angehäuften Resultat eine Autobiographie zu verfertigen, würde es ein bis zwei Stunden – ja bis zu vier Stunden – dauern, den autobiographischen Stoff dieses einen Tages festzuhalten, und das Ergebnis wäre ein Verbrauch von fünf- bis vierzigtausend Wörtern. Es ergäbe einen dicken Folianten. Man darf nicht meinen, dass es, nur weil man den ganzen Dienstag gebraucht hat, um den autobiographischen Stoff des Montags aufzuschreiben, am Mittwoch nichts mehr aufzuschreiben gäbe. Nein, am Mittwoch gibt es genauso viel aufzuschreiben, wie der Montag für den Dienstag ergeben hat. Und das liegt daran, dass das Leben größtenteils – oder auch nurgroßenteils – nicht aus Tatsachen und Geschehnissen besteht. Es besteht größtenteils aus dem Ansturm der Gedanken, die einem unablässig durch den Kopf wehen. Könnte man diese stenographisch festhalten? Nein. Könnte man einen beträchtlichen Teil davon stenographisch festhalten? Nein. Fünfzehn bienenfleißige Stenographinnen könnten nicht Schritt halten. Insofern ist noch nie eine vollständige Autobiographie geschrieben worden und wird auch nie eine geschrieben werden. Sie würde aus dreihundertfünfundsechzig großformatigen Bänden pro Jahr bestehen – und folglich könnten, wenn ich meiner autobiographischen Pflicht seit meiner Jugend nachgekommen wäre, sämtliche Bibliotheken der Erde das Ergebnis nicht fassen.
    Ich frage mich, wie sich der Morris-Zwischenfall in fünfzig Jahren in der Geschichtsschreibung ausnehmen wird. Bedenken Sie diese Umstände: dass sich hier, vor unseren Haustüren, die großen Versicherungsturbulenzen noch nicht gelegt haben. Selbst gestern und vorgestern waren die diskreditierten millionenschweren Versicherungsmagnaten nicht hinausgeworfen und unter den Verwünschungen der Nation begraben worden, vielmehr verharren einige der McCurdies, McCalls, Depews, Hydes und Alexanders noch immer in ihren Vertrauenspositionen und Bankaufsichtsratsposten. Außerdem konzentriert sich heute die Aufmerksamkeit der gesamten Nation auf die Standard Oil Corporation, die gewaltigste Handelsmacht auf dem Planeten. Ganz Amerika hält den Atem an und fragt sich, ob die Standard Oil angeschlagen aus der Schlacht von Missouri hervorgehen wird und wenn angeschlagen, wie angeschlagen. Darüber hinaus haben wir einen Kongress, der damit droht, die Panamakanal-Kommission zu überprüfen, um zu sehen, was sie mit den neunundfünfzig Millionen getan hat, und um herauszufinden, was sie mit den jüngst nachgeschossenen elf Millionen zu tun gedenkt. Ferner gibt es drei oder vier andere Angelegenheiten von ungeheurem öffentlichem Interesse. Und auf der anderen Seite des Ozeans haben wir die Trennung von Kirche und Staat in Frankreich; wir haben einen drohenden Krieg zwischen Frankreich und Deutschland in der Marokkofrage; wir haben eine niedergeschlagene Revolution in Russland, wo der Zar und seine Familie von Dieben – den Großherzögen – sich von ihrem langen Schreck erholen und die Überreste der Revolutionäre auf die gleiche alte selbstbewussteArt niedermetzeln, wie sie schon seit drei Jahrhunderten russische Art ist; wir haben China, das ein feierliches und entsetzliches Geheimnis darstellt. Niemand weiß, worin es besteht, doch in aller Eile schicken wir drei Regimenter von den Philippinen nach China, unter General Funston, dem Mann, der Aguinaldo mit Methoden gefangen genommen hat, die noch den primitivsten Quatschkopf, der in irgendeiner Strafanstalt sitzt, beschämen würden. Niemand scheint zu wissen, worin das Geheimnis von China

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