Meine geheime Autobiographie - Textedition
anderen gegenüber, sehe ich noch immer klar umrissen vor mir: Mr. Emerson, übernatürlich ernst und ohne zu lächeln; Mr. Whittier, würdig, liebenswert, mit einem Gesicht, aus dem sein schöner Geist leuchtet – ein Quäker, aber freundlich und angenehm; Mr. Longfellow mit seinem seidigen weißen Haar und seinem gütigen Gesicht; Dr. Oliver Wendell Holmes, der in alle Richtungen Freundlichkeit, Zuneigung und Kameradschaft aufblitzen lässt wie ein rosa Diamant, dessen Facetten erst so, dann so herum gegen das Licht gehalten werden – ein entzückender Mann und stets faszinierend, ob er nun sprach oder still dasaß (was
er
so still sitzen nennt, was für andere Leute jedoch mehr oder weniger Bewegung wäre). Über den Abgrund der Zeit hinweg sehe ich diese Gestalten mit großer Klarheit.
Ein weiteres Faktum ist klar – Willie Winter (seit tausend Jahren Theaterredakteur der
New York Tribune
und im hohen Alter noch immer in dieser Position) war da. Damals war er viel jünger als jetzt, und sein Aussehen entsprach seinem Alter. Es hat mir stets Vergnügen bereitet, Willie Winter bei einem Bankett zu sehen. Im Laufe von zwanzig Jahren habe ich nur selten einem Bankett beigewohnt, bei dem nicht auch Willie Winter anwesend war und ein reizendes, für diesen Anlass geschriebenes Gedicht vortrug. Das tat er auch diesmal, und es wurde den Anforderungen gerecht. Seine Lyrik war nie kraftvoll, sondern geschmeidig, wogend, elegant, unbeschwert und voll ausgesuchter Wendungen, man lauschte ihr ebenso gern wie Musik – und er liebte es, diese Gelegenheitsgedichte zu rezitieren, mit einer Liebe, die unbegreiflich war. Seine Freude am eigenen Vortrag war offensichtlich, das Gefallen, das er daran fand, vollkommen unschuldig. Seine harmlose Bewunderung für die eigenen Gedichte, seine formvollendete Art, sie vorzutragen – all das war schön mit anzusehen. Zuweilen hielt er eine äußerst lange Rede aus dem Gedächtnis, exquisit formuliert, makellos strukturiert, und doch klang sie genau so, als strömte sie unvorbereitet aus Herz und Hirn. Er war ein glänzender Rezitator seiner Poesie wie seiner Prosa, und in beiden Fällen wares Musik. Wenn er auf der Liste der Vortragenden ganz unten stand, war sein Vortrag zwei- oder dreimal so viel wert, wie wenn er dazu auserkoren war, die Arena früher zu betreten, denn wenn er etwas weiter unten auf der Liste stand, bekam er Gelegenheit, einen Fingerhut Champagner zu trinken, und mehr brauchte Willie Winter nicht. Ich sehe ihn so klar vor mir: seine kleine, eindringlich vorgebeugte Gestalt, sein Gesicht, das vor Beseeltheit glühte – teils aufgrund seiner Lyrik, teils aufgrund des Fingerhuts Champagner. Er warf ein, zwei elegante Zeilen in den Raum, dann blickte er hierhin, dorthin und anderswohin, um Beifall einzuheimsen; und in der Zwischenzeit tat er etwas – nicht, dass er spuckte, das wäre unfein –, doch er tat, was jemand tut, der reichlich mit Champagner angefüllt ist, wenn er glaubt, den Mund voll roher Baumwolle zu haben und diese loswerden zu müssen. Das tat er die ganze Zeit hindurch, während er rezitierte, und war der glücklichste Mensch der Welt. Und bei dem besonderen Anlass, von dem ich spreche, war er reizend. Es war schön, ihm zuzusehen, und ich wünschte, er wäre betrunkener gewesen. Er holte aus dem Fingerhut Champagner so viel Wirkung heraus, dass ich mich fragte, was geschehen würde, wenn er einen ganzen Kübel davon getrunken hätte.
An dieser Stelle endet alles, was an jener denkwürdigen Feier zu Mr. Whittiers siebzigstem Geburtstag vergnüglich war – denn an dieser Stelle stand
ich
auf und folgte Winter mit dem Glanzstück des Abends, wie ich wohl vermutet haben muss – der lustigen Rede, die ich weiter oben aus der Bostoner Zeitung zitiert habe. Ich hatte sie am Vortag ausgearbeitet und vollkommen auswendig gelernt, und so erhob ich mich, wie immer leutselig, unbeschwert, selbstzufrieden und ungezwungen, und begann sie vorzutragen. Jene hoheitsvollen Gäste, diese Reihe verehrungswürdiger und noch immer tätiger Vulkane, lauschten wie jeder andere im Saal mit wachem Interesse. Nun, ich entledigte mich der – sagen wir – ersten zweihundert Wörter meiner Ansprache. Von diesem Teil der Rede erhoffte ich mir keinen Ertrag, aber bei dem Rest war der Fall anders gelagert. Jetzt kam ich zu dem Dialog: »Der alte Grubenarbeiter sagte: ›Sie sind schon der vierte – ich geh weg von hier.‹ ›Der vierte was?‹, fragte ich. Er antwortete:
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