Meine geheime Autobiographie - Textedition
diesen Tag zum Thanksgiving Day erkoren, einem Feiertag, der vor zwei, drei Jahrhunderten von Neuengland ausgegangen war, als die Leute dort erkannten, dass sie – jährlich, nicht öfter – allen Grund hatten, dankbar zu sein, wenn es ihnen gelungen war, in den letzten zwölf Monaten ihre Nachbarn, die Indianer, auszurotten, statt von ihren Nachbarn, den Indianern, ausgerottet zu werden. Thanksgiving Day wurde zur Gewohnheit aus dem einfachenGrund, weil man im Laufe der Zeit merkte, dass das Ausrotten aufgehört hatte, eine gegenseitige Angelegenheit zu sein, und ausschließlich von Seiten des weißen Mannes erfolgte, folglich von Seiten des Herrn, und folglich war es nur recht und billig, dem Herrn dafür zu danken und ihm die üblichen jährlichen Komplimente darzubringen. Der ursprüngliche Grund für einen Thanksgiving Day besteht längst nicht mehr – die Indianer sind vollständig und zufriedenstellend ausgerottet und die Rechnung im Himmel mit gebührendem Dank beglichen. Doch der Thanksgiving Day ist uns aus alter Gewohnheit erhalten geblieben, und jedes Jahr im November stellen sich der Präsident der Vereinigten Staaten und die Gouverneure sämtlicher Einzelstaaten und Territorien die Aufgabe, etwas anzupreisen, wofür man dankbar sein sollte, und dann hüllen sie diesen Dank in ein paar knappe und pietätvolle Phrasen in Form einer Proklamation, und die wird von allen Kanzeln im Land verlesen, das nationale Gewissen ist mit einem Wisch gereinigt, und die Sünde wird beim alten Stand fortgesetzt.
Der Präsident und die Gouverneure wollten meinen Geburtstag – den 30. November – als Thanksgiving Day haben, und das bedeutete große Unannehmlichkeiten für Colonel Harvey, der aufwendige Vorbereitungen für ein Bankett an diesem Tag getroffen hatte, für ein Bankett zu meinen Ehren und zur Feier der Tatsache, dass ich,
seinem
Urteil nach, zum siebzigsten Mal dem Galgen entronnen war – einer Tatsache, die er mit Wohlwollen bedachte und mit Vergnügen betrachtete, da er mein Verleger ist und kommerzielle Interessen verfolgt. Er reiste nach Washington, um den Präsidenten zu bewegen, einen anderen Tag für die nationale Danksagung auszuwählen, und ich versah ihn mit Argumenten, die ich für schlüssig und schlagkräftig hielt, Argumenten, die den Präsidenten überreden sollten, den Thanksgiving Day um ein ganzes Jahr zu verschieben – mit der Begründung, dass in den letzten zwölf Monaten nichts geschehen sei außer mehreren grausamen und unentschuldbaren Kriegen, dem alljährlichen Gemetzel und Geraube König Leopolds von Belgien im Kongo zusammen mit den Enthüllungen über die Versicherungen in New York, die zu beweisen schienen, dass, wenn es in den Vereinigten Staaten überhaupt noch einen ehrlichen Menschen gab, dann den, dessen siebzigsten Geburtstag wir feiern wollten. Indes kehrte der Colonelerfolglos zurück und verschob meine Geburtstagsfeier auf den 5. Dezember.
An diesem siebzigsten vergnügte ich mich doppelt so gut wie an Mr. Whittiers siebzigstem achtundzwanzig Jahre zuvor. In der Rede, die ich hielt, verheimlichte ich viele Tatsachen. Ich rechnete damit, dass jeder zu 95 Prozent Abstriche an diesen Tatsachen machen würde, und das geschah vermutlich auch. Es beunruhigt mich nicht weiter, ich bin es gewohnt, dass man an meinen Aussagen Abstriche macht. Meine Mutter hatte damit angefangen, noch bevor ich sieben Jahre alt war. Doch mein ganzes Leben hindurch haben meine Tatsachen ein Substrat Wahrheit enthalten, weshalb sie nicht ohne Kostbarkeit waren. Jeder, der mich kennt, weiß, wie er meinen Durchschnittswert herausfindet, und deshalb weiß er auch, wie er an das Juwel irgendeiner meiner Tatsachen gelangen und es aus dem blauen Lehm des Erdreichs herauslösen kann. Meine Mutter beherrschte diese Kunst. Als ich sieben, acht, zehn oder zwölf Jahre alt war – so ungefähr –, sagte eine Nachbarin zu ihr: »Glauben Sie auch nur irgendetwas, was der Bengel sagt?« Meine Mutter antwortete: »Er ist die Quelle der Wahrheit, aber man kann mit
einem
Eimer nicht die ganze Quelle ausschöpfen« – und fügte hinzu: »Ich kenne seinen Durchschnittswert, insofern belügt er mich nie. Ich mache zu dreißig Prozent Abstriche von wegen der Ausschmückungen, aber der Rest ist die vollkommene, unschätzbare, ungetrübte Wahrheit.«
Um jetzt vierzig Jahre zu überspringen, ohne die Verbindung zu zerreißen: Als ich fünfzig Jahre alt war, wurde das Wort »Ausschmückungen«, in meiner Gegenwart
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