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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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nächste Redner hatte nicht mehr die Kraft, sich zu erheben, und jeder wirkte so verstört, bestürzt und erstarrt, dass es unmöglich war, irgendetwas zu tun oder es auch nur zu versuchen. In dieser seltsamen Atmosphäre kam alles zum Erliegen. Howells schloss sich traurig und wortlos Bishop und mir an und geleitete uns aus dem Saal. Das war sehr freundlich – er war sehrgroßmütig. Er schleppte uns torkelnd in einen anderen Raum des Gebäudes, und dort setzten wir uns hin. Ich weiß nicht mehr, was für eine Bemerkung ich machte, aber an ihre Essenz erinnere ich mich noch. Es war eine Bemerkung von der Art, die Sie machen, wenn Sie wissen, dass nichts in der Welt Ihrer Sache helfen kann. Aber Howells war aufrichtig – er
musste
die herzzerreißenden Dinge sagen, die er sagte: dass es für diese Kalamität, diesen Schiffbruch, diese Katastrophe keine Abhilfe gebe; dass es der verhängnisvollste Vorfall sei, der sich je im Leben eines Menschen ereignet habe – und dann fügte er hinzu: »Das heißt verhängnisvoll für
Sie
– bedenken Sie, was Sie bei Bishop angerichtet haben. In Ihrem Fall ist es schlimm genug, Sie verdienen es, zu leiden. Sie haben das Verbrechen begangen und verdienen Ihre gerechte Strafe. Aber hier ist ein unschuldiger Mann. Bishop hat Ihnen nie etwas zuleide getan, und schauen Sie, was Sie ihm angetan haben. Er kann seinen Kopf nie wieder hochhalten. Die Welt kann Bishop nie wieder als lebende Person betrachten. Er ist ein Leichnam.«
    Das ist der Verlauf jener Episode von vor achtundzwanzig Jahren, die mich, wann immer sie sich meiner Erinnerung aufdrängte, in den ein, zwei Jahren danach vor lauter Beschämung fast umgebracht hätte.
    Nun denn, ich nehme die Rede zur Hand und prüfe sie. Wie gesagt, sie traf heute Morgen aus Boston ein. Ich habe sie zweimal gelesen, und sofern ich kein Idiot bin, weist sie vom ersten bis zum letzten Wort nicht einen einzigen Mangel auf. Sie ist so gut, wie sie nur sein kann. Sie ist elegant; sie ist humorgesättigt. Nirgends findet sich auch nur ein Hauch von Derbheit oder Gemeinheit. Was war nur mit den Zuhörern los gewesen? Es ist erstaunlich, es ist unglaublich, dass sie nicht vor Lachen brüllten und jene Gottheiten am lautesten von allen. Lag der Fehler bei mir? Verlor ich den Mut, als ich die großen Männer vor mir sah, die ich auf so sonderbare Weise charakterisieren würde? Falls dem so war, falls ich Zweifel zeigte, könnte das die Erklärung sein, denn man kann nicht wirkungsvoll komisch sein, wenn man zeigt, dass man Angst davor hat. Nun, ich kann es mir nicht erklären, aber wenn ich jene geliebten und verehrten alten literarischen Unsterblichen jetzt hier auf dem Podium der Carnegie Hall hätte, würde ich dieselbe alte Rede nehmen, sie Wort für Wort noch einmal halten, bis die Zuhörer dahinschmelzenund die Bühne stürmen. Ach, der Fehler muss bei
mir
gelegen haben, in der Rede selbst findet er sich nicht.
    Ganz Boston erschauderte mehrere Tage lang. Alle Fröhlichkeit, alle Lustbarkeit versiegte; selbst die Begräbnisse verloren ihre Lebhaftigkeit. Nie hatte es in Boston eine so schreckliche Zeit gegeben. Nicht einmal das Massaker hatte die gleiche Wirkung hervorgebracht, auch nicht die Episode um Anthony Burns oder sonst irgendeine Feierlichkeit in der Geschichte Bostons. Aber ich bin froh, dass jene Dame die Rede, an die ich andernfalls vermutlich nie wieder gedacht hätte, erwähnt hat, denn jetzt werde ich sie einer Prüfung unterziehen und herausfinden, ob es Boston war oder ich selbst, die an Mr. Bishops traurigem Leichenbegängnis Schuld hatten; denn nächsten Sommer werde ich, mit der maschinengeschriebenen alten Rede in der Hand, aus den Bergen von New Hampshire kommen und vor den geballten Intellekt Bostons – den Twentieth Century Club – treten, und ohne zu verraten, worüber ich zu sprechen um Erlaubnis bitte, werde ich dieser unvoreingenommenen Jury die uralten Tatsachen vorlegen, die Rede verlesen und das Ergebnis abwarten. Wenn sie nicht lachen und staunen, werde ich auf der Stelle Selbstmord verüben. Das kann ich ebenso gut an diesem wie an jedem anderen Ort tun; und ein Zeitpunkt ist mir genauso recht wie ein anderer.
    12. Januar 1906
    Das Gespräch über Mr. Whittiers siebzigsten Geburtstag erinnert mich daran, dass kürzlich mein eigener siebzigster anstand – will sagen, er stand am 30. November an, doch an diesem Tag konnte Colonel Harvey ihn nicht feiern, denn der Präsident war ihm zuvorgekommen und hatte

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