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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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hatte eine billige Unterkunft am Square – irgendwo am Gramercy Park, aber sein eigentliches Zuhause war der Club. Einmal hat er mir seine Lebensgeschichte erzählt. Seine Version lautet folgendermaßen:
    Er war Lehrling in der Redaktion einer kleinen Wochenzeitung in Willamette, Oregon, und irgendwann kam Edwin Booth mit seiner Truppe zu einem einmaligen Gastspiel in die Stadt, und John packte das Bühnenfieber, er schloss sich der Truppe an und reiste mit ihr die Pazifikküste entlang in verschiedenen nützlichen schauspielerischen Rollen – Rollen, die für einenAnfänger geeignet waren; manchmal assistierte er, indem er auf der Bühne erschien und »Mylord, die Kutsche wartet« sagte, später trat er, mit glänzendem Blech gepanzert, als römischer Soldat auf und so weiter, allmählich fielen ihm immer höhere Stellungen zu, und irgendwann stand er Schulter an Schulter mit John McCullough, und auf der tragischen Bühne rangierten beide gleich nach Edwin Booth selbst. Die Frage war, wer von beiden Booth nachfolgen würde, wenn dieser ausschied oder starb. Malone zufolge reichte sein damaliger Ruhm an den McCulloughs heran, und die Chancen waren gleich verteilt. Einmal bot sich eine günstige Gelegenheit – eine große Rolle in Philadelphia. Malone erhielt den Part. Er verpasste seinen Zug. John McCullough wurde auf die Bühne gestellt und errang einen solchen Erfolg, dass er zeitlebens ein
gemachter
Mann war. Malone war davon überzeugt, dass er selbst diesen Erfolg hätte erringen können, wenn er nicht seinen Zug verpasst hätte; er hätte sich den anhaltenden Ruhm gesichert, der John McCullough beschieden war; er wäre so heiter, behaglich, glücklich, umworben, bewundert, beklatscht durchs Leben gegangen, wie es von jenem Tag an bis zum Tag seines Todes John McCullough tat. Malone glaubte von ganzem Herzen, damals seien Ruhm und Reichtum in greifbarer Nähe gewesen, entgangen seien sie ihm nur, weil er seinen Zug verpasst hatte. Seinen Verfall datierte er auf jenen Tag. Er verfiel und verfiel und verfiel, nach und nach und nach und nach, Jahr für Jahr, bis eine Zeit kam, da er auf der Bühne nicht mehr erwünscht war; da ihm sogar eine Nebenrolle nach der anderen misslang und seine Engagements schließlich ganz aufhörten – Engagements jeder Art. Und doch glaubte er immer wieder an eine Schicksalswende und erwartete eine solche; rechnete immer wieder mit der Chance, eine große Bühnenrolle zu bekommen; und mehr als diese
eine
Chance, sagte er, wolle er nicht. Er war überzeugt, die Welt würde nicht daran zweifeln, dass er der rechtmäßige Nachfolger Edwin Booths sei, und von da an wäre er ein berühmter, glücklicher und erfolgreicher Mann. Diese Hoffnung gab er nie auf. Ich erinnere mich an seinen Jubel vor drei oder vier Jahren, als er von einer privaten Theatergruppe ausersehen wurde, in einem der großen New Yorker Theater den Othello zu geben. Und ich erinnere mich an seinen Kummer und seine tiefe Niedergeschlagenheit, als die private Theatergruppedas Unternehmen im letzten Moment aufgab, Malones Engagement kündigte und ihn so um den Ruhm brachte, der wieder einmal in greifbarer Nähe gewesen war.
    Wie gesagt, an jenem Abend erspähte ich ihn mitten im Dinner durch die halb geöffnete Tür. Dort verharrte er das ganze restliche Dinner, »übergangen«, immer wieder übergangen. Doch als einige von uns nach den Reden in Grüppchen beisammenstanden und plauderten, schlich er sich kleinlaut herein, bahnte sich einen Weg zu dem leeren Stuhl neben mir und setzte sich. Auch ich setzte mich sofort und fing an, mit ihm zu reden. Ich hatte ihn gern – ich glaube, das hatte jeder. Und gleich darauf kam der Präsident des New York City College herein, beugte sich über John und fragte mich nach meinem letzten Sommer und wie es mir in den Bergen von New Hampshire, in Dublin, gefallen habe. Um John ins Gespräch einzubeziehen, fragte er ihn, ob er mit der Gegend vertraut und schon einmal in Dublin gewesen sei. Malone sagte träumerisch und mit der Miene eines Mannes, der versucht, sich auf längst vergangene Dinge zu besinnen: »Wo liegt das im Verhältnis zu Manchester?« Präsident Finley sagte es ihm, und da antwortete John: »Ich bin noch nie in Dublin gewesen, aber an Manchester habe ich eine undeutliche Erinnerung. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich da schon mal gewesen bin – aber es war nur für ein einmaliges Gastspiel, wissen Sie.«
    Es füllte meine Seele mit leiser Freude, mit freundlicher

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