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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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ich keine Notizen.
Was einen innerlich
am meisten beschäftigt
, sollte das sein, worüber man redet oder schreibt. Die Dinge von neuem und unmittelbarem Interesse geben den schönsten Text her, den man haben kann – und wenn Sie um elf Uhr oder zu einer beliebigen anderen Stunde hierherkommen, werden Sie mich nicht dabei ertappen, dass ich kein neues Interesse hätte – ein vollkommen frisches Interesse –,denn entweder habe ich die infernalischen Zeitungen gelesen und beziehe es von dort, oder ich habe mich mit jemandem unterhalten; und in beiden Fällen ist ein neues Interesse vorhanden – ein Interesse, über das ich unbedingt etwas diktieren möchte. Sie sehen, infolgedessen wird meine Erzählung jeden Morgen in Tagebuchform beginnen, denn sie wird mit etwas beginnen, was ich gerade gelesen oder wovon ich gerade gesprochen habe. Dieser Text, wenn ich damit fertig werde – wenn ich je damit fertig werde, denn ich scheine mit keinem Text fertig zu werden –, aber das macht nichts, ich bin nicht daran interessiert, mit irgendetwas fertig zu werden. Ich bin nur daran interessiert, draufloszuschwatzen und nach Belieben abzuschweifen, ohne Rücksicht auf das Ergebnis für den künftigen Leser. Folglich haben wir hier eine Kombination aus Tagebuch und Geschichte; denn sobald ich von dem vorliegenden Text – dem heutigen Gedanken – abschweife, führt mich die Abschweifung über ein unerforschtes Meer der Erinnerung, und das Resultat ist
Geschichte.
Insofern ist meine Autobiographie eine Kombination aus Tagebuch und Geschichte. Das Privileg, jeden Tag in Tagebuchform zu beginnen, ist wertvoll. Ich könnte ein noch größeres Wort verwenden und sagen, es sei kostbar, denn es vereint ganz unterschiedliche Dinge, die auf gewisse Art miteinander zusammenhängen, und folglich werden hin und wieder angenehme Überraschungen und Gegensätze daraus resultieren.
     
    Habe ich vor drei oder vier Tagen etwas über John Malone diktiert? Nun denn, wenn nicht, muss ich mich mit jemandem über John Malone unterhalten haben. Jetzt fällt es mir wieder ein, es war mit Mr. Volney Streamer. Er ist Bibliothekar des Players Club. Er sprach vor, um mir ein Buch zu bringen, das er veröffentlicht hat, und um allgemein meine Bekanntschaft zu machen. Ich war Gründungsmitglied des Players Club, hörte vor drei Jahren aber auf, Mitglied zu sein, wegen einer Albernheit, die der Vorstand des Clubs begangen hatte, ein Vorstand, der immer idiotisch gewesen ist; ein Vorstand, der von Anfang an nicht im nächstgelegenen, sondern im fachkundigsten Irrenhaus der Stadt ausgewählt worden ist. (Irgendwann möchte ich darüber reden.) Mehrere Male während dieser drei Jahre haben meine alten Freundeund Clubkameraden – David Munro, der reizende Schotte, Herausgeber der
North American Review
; Robert Reid, der Künstler; Saint-Gaudens, der Bildhauer; John Malone, der ehemalige Schauspieler, und andere – dem Vorstand sein Verhalten verübelt, ich meine jenes Verhalten, das meine Trennung vom Club zur Folge hatte – und sie haben immer wieder versucht, einen Weg zu finden, um mich, ohne meinen Stolz zu verletzen, wieder in den Schoß des Clubs aufzunehmen. Schließlich fanden sie einen Weg. Sie ernannten mich zum Ehrenmitglied. Diese schöne Ehre verschaffte mir grenzenlose Genugtuung, und ich war froh, unter so schmeichelhaften Umständen zurückkehren zu können. (Das Wort »schmeichelhaft« gefällt mir nicht, aber wir wollen es durchgehen lassen, das richtige fällt mir im Moment nicht ein.) Dann setzten David Munro und die anderen dem verlorenen Schaf ein gemästetes Kalb vor, ein Festessen. Im Verlauf des Dinners erspähte ich durch eine halb geöffnete Speisekammertür die jämmerliche Gestalt John Malones. Da war er, natürlich übergangen. Fünfundsechzig Jahre alt; und mit diesem Worte, diesem einen beredten Wort, lässt sich seine ganze Lebensgeschichte – die Geschichte der letzten fünfzig Jahre – zusammenfassen: »übergangen«. Als die Jahre vorüberzogen, ist er übergangen worden, übergangen worden und abermals übergangen worden, fast zwei Generationen lang. Immer hat er erwartet, einbezogen zu werden. Immer hat er jämmerlich darauf gehofft, einbezogen zu werden; in all den Jahren hat ihn diese Hoffnung nie verlassen und sich doch in keinem Fall erfüllt. In all den Jahren, in denen ich im Players vorbeischaute, um Billard zu spielen und mit den Jungs zu plaudern, war John Malone immer bis Mitternacht und länger da. Er

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