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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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unterhalb des Knies; machen Sie ihn zum Krüppel, aber lassen Sie seiner Mutter den Rest.«
    Dank dieser wirklich klugen und ausgezeichneten Instruktion streckte Joe seinen Mann mit einer Kugel in den Unterschenkel nieder, von der er ein bleibendes Hinken zurückbehielt. Joe dagegen büßte nichts als eine Haarlocke ein, die er damals eher erübrigen konnte als heute. Denn als ich ihn vor einem Jahr hier in New York sah, waren ihm die Haare ausgefallen; er hatte kaum noch mehr als Stirnfransen, über denen sich eine polierte Kuppel erhob.
    Rund ein Jahr später bekam ich
meine
Chance. Aber ich war nicht darauf erpicht. Goodman fuhr für eine Woche nach San Francisco in Urlaub und setzte mich als Chefredakteur ein. Ich hatte angenommen, das sei keine große Sache, da ich nichts weiter tun müsse, als jeden Tag einen Leitartikel zu schreiben; in diesem Aberglauben aber sah ich mich enttäuscht. Am ersten Tag ließ sich nichts finden, worüber ich einen Artikel schreiben könnte. Dann fiel mir ein, dass ja der 22. April 1864 war und der nächste Tag auf den dreihundertsten Geburtstag Shakespeares fiel – ein besseres Thema hätte ich mir nicht wünschen können. Ich besorgte mir eine Enzyklopädie, studierte sie und fand heraus, wer Shakespeare war und was er getan hatte, borgte mir das alles und breitete es vor einer Gemeinde aus, die auf eine Belehrung über Shakespeare nicht besser hätte vorbereitet sein können, als wenn sie mit aller Kunst vorbereitet gewesen wäre. Shakespeare hatte nicht genug getan, als dass ein Leitartikel von der notwendigen Länge daraus zu machen gewesen wäre, aber ich streckte den Artikel mit dem, was er nicht getan hatte – und was in vielerlei Hinsicht bedeutsamer, beeindruckender und lesenswerter war als die schönsten Dinge, die er tatsächlich vollbracht hatte. Aber am folgenden Tag saß ich schon wieder in der Klemme. Es gab keine Shakespearesmehr, die ich verarbeiten konnte. Es gab nichts in der Geschichte der Vergangenheit oder in den zukünftigen Möglichkeiten der Welt, worüber man einen Leitartikel hätte schreiben können, der für diese Gemeinde brauchbar gewesen wäre; und so blieb mir nur ein Thema. Dieses Thema war Mr. Laird, Eigentümer der
Virginia Union
. Auch
sein
Herausgeber war nach San Francisco gefahren, und Laird versuchte sich an der Redaktionsarbeit. Ich weckte Mr. Laird mit einigen Höflichkeiten, wie sie unter den Zeitungsredakteuren der Region damals Mode waren, und tags darauf fiel er heftig über mich her. Er fühlte sich gekränkt, weil ich etwas über ihn geschrieben hatte – eine Lappalie, ich weiß nicht einmal mehr, was es war –, wahrscheinlich hatte ich ihn einen Pferdedieb genannt oder eins der gewöhnlichen kleinen Schlagworte gebraucht, die man verwendet, um einen anderen Herausgeber zu charakterisieren. Zweifellos war es gerecht und zutreffend, aber Laird war ein äußerst empfindliches Geschöpf, und es gefiel ihm nicht. Daher rechneten wir seitens Mr. Lairds mit einer Forderung, denn gemäß den Regeln – gemäß der Etikette des Duells, wie sie von den Duellanten der Region rekonstruiert, reorganisiert und reformiert worden ist – gilt Folgendes: Immer dann, wenn man etwas über einen anderen sagt, was diesem nicht gefällt, reicht es nicht, dass er es mit gleicher Münze heimzahlt: die Etikette verlangt, dass er zum Duell herausfordert; und so warteten wir auf die Herausforderung – warteten den ganzen Tag. Sie kam nicht. Und als der Tag verging, Stunde um Stunde, und keine Forderung erging, wurden die Jungs ganz niedergeschlagen. Sie verzagten. Ich aber war heiter; immer besser fühlte ich mich. Sie konnten das nicht verstehen, ich dagegen schon. Es war meine
Machart
, die mich in die Lage versetzte, heiter zu sein, wenn andere Leute den Mut verloren. So wurde es denn notwendig, Etikette Etikette sein zu lassen und Mr. Laird herauszufordern. Als wir zu dieser Entscheidung gelangten, bekamen sie bessere Laune,
mir
dagegen kam meine Lebhaftigkeit so ziemlich abhanden. Bei Unternehmungen solcher Art ist man jedoch in der Hand seiner Freunde; es bleibt einem nichts anderes übrig, als dem Kurs zu folgen, den sie für den besten halten. Daggett setzte eine Forderung für mich auf, denn Daggett verfügte über die Sprache – die richtige Sprache, die überzeugende Sprache –, an der es mir fehlte. Daggett überschüttete Mr.Laird mit einer Flut unappetitlicher Schimpfnamen, befrachtet mit einer durchschlagskräftigen Gehässigkeit, die

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