Meine gute alte Zeit - Teil I
sie darauf hin, dass sie die kleine Französin unglücklich machten. Marie lebte hier fern von ihrer Heimat, und sie sollten sich einmal überlegen, wie sie sich in einem fre m den Land fühlen würden. Nach ein oder zwei Monaten fand Marie ihr fröhliches Wesen wi e der.
»Aber bekamst du denn keinen Unterricht?«, könnte der eine oder andere Leser fragen, der die Geduld aufg e bracht hat, mir bis hierher zu folgen.
Meine Antwort lautet schlicht: »Nein, ich bekam keine Unterricht s stunden.«
Ich war damals etwa neun Jahre alt, und die meisten Kinder meines Alters hatten Gouvernanten, deren Au f gabe es aber in erster Linie war, die ihnen anvertrauten Kinder zu beaufsicht i gen und zu beschäftigen. Was sie ihren Schützlingen an »Wissen« vermittelten, blieb au s schließlich dem Geschmack der jeweiligen Gouvernante überla s sen.
Ich erinnere mich undeutlich an die eine oder die and e re Gouverna n te in befreundeten Familien. Die eine schwor auf Dr. Brewers Child’s Guide to Knowledge, einen Vorläufer unserer modernen Quizbücher. Einige der dort erworbenen Wissen s körnchen habe ich im Gedächtnis behalten: »Von welchen drei Krankheiten wird der We i zen befallen? – Schimmel, Brand und Rost.« – »Welches ist der wichtigste Fabrikationszweig der Stadt Re d ditch? – Nadeln.« – »Wann war die Schlacht von Hastings? – 1066.« Sie haben mich mein Leben lang begleitet – b e dauerlicherweise hatten sie nie irgendwelchen praktischen Wert für mich.
Eine andere Gouvernante unterrichtete ihre Schüler beinahe nur in N a turgeschichte. Es wurde eine Unmenge von Blättern und Blüten und Beeren gesammelt und a n schließend zerschni t ten und zerteilt. Es war unglaublich langweilig. »Ich hasse dieses ewige In-Stücke-Reißen«, ve r traute mir meine kleine Freundin an. Ich war ganz ihrer Meinung, und mein Leben lang habe ich vor dem Wort Botanik gescheut wie ein ne r vöses Pferd.
Mutter war in ihrer Jugend zur Schule gegangen, in eine Lehranstalt in Cheshire. Sie schickte meine Schwester Madge in eine öffentliche El e mentarschule, huldigte aber jetzt der Anschauung, die beste Methode, Mädchen zu erziehen, bestünde darin, ihnen soweit wie mö g lich ihre Freiheit zu lassen, ihnen gutes Essen und frische Luft zu geben und ihrer geist i gen Entwicklung in keiner Weise Zwang anzutun. (Natürlich galt nichts von all dem für Knaben; für sie war eine streng konventionelle Erziehung vorgesehen.)
Wie schon erwähnt, hatte Mutter eine Theorie, wonach einem Mä d chen das Lesen erst mit acht Jahren gestattet werden sollte. Da ihr das in meinem Fall misslungen war, durfte ich lesen, soviel ich wollte, und ich nahm jede G e legenheit wahr, das auch zu tun. Das so genannte Schu l zimmer war ein großer, fast ganz von Büchergestellen eingefasster Raum im Oberg e schoss des Hauses. Es gab Regale mit Ki n derbüchern – Alice im Wunderland und Alice hinter den Spiegeln, sentimentale viktor i anische Erzählungen und daneben jede Menge von Schulb ü chern, Erzählungen und Romanen. Ich las wahllos, was mir in die Hände fiel – auch Dinge, die ich zwar nicht verstand, die mich aber dennoch fesselten.
Bei meiner Lektüre geriet ich auch an ein französisches Theate r stück. Vater kam dazu, als ich es las. »Wo hast du denn das her?«, fragte er und nahm es mir entsetzt aus der Hand. Es war ein Werk aus einer Reihe französischer Romane und Theate r stücke, die er, da nur für den Gebrauch Erwachsener bestimmt, üblicherweise im Rauc h zimmer unter Verschluss hielt.
»Es lag im Schulzimmer«, antwortete ich.
»Da hat es nichts zu suchen«, sagte er. »Es gehört in meinen Schrank.«
Ich überließ es ihm ohne Bedauern. Offen gestanden, ich hatte kaum die Zusammenhänge erkannt. Ich kehrte beglückt zu Mémoires d’un Âne, Sans Familie und anderen harmlosen französischen Büchern z u rück.
Irgendwelchen Unterricht muss ich wohl genossen h a ben, aber ich b e kam nie eine Gouvernante. Ich lernte Mathematik mit Vater, der mich in die Welt der Bruc h rechnung und Dez i malzahlen einführte. Ich erreichte schließlich den Punkt, wo soundso viele Kühe soundso viel Gras fressen, und mit Wasser gefüllte Fässer in s o undso viel Stu n den… Ich fand es sehr aufregend.
Meine Schwester war jetzt offiziell »gesellschaftsfähig« g e worden, was eine große Zahl von Partys, Kleidern, Besuchen in London und so weiter mit sich brachte. Das wieder hielt Mutter in Atem, sodass sie weniger Zeit für
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