Meine gute alte Zeit - Teil I
abzuschneiden. Es war höchst ärgerlich.
Nach einer Weile kam mir der Gedanke, dass es doch recht nett w ä re, auch ein paar jüngere Mädchen in meiner Schule zu haben. Ich nahm zwei Sechsjährige auf, Ella White und Sue de Verte. Ella war gewisse n haft, fleißig und langweilig. Sie hatte buschiges Haar und war eine a n nehmbare Krocketspielerin. Sue de Verte war eher farblos – im Auss e hen wie auch im Charakter. Irgendwie konnte ich sie weder sehen noch fühlen. Sie und Ella waren eng befreundet. Während Ella für mich ein offenes Buch war, blieb Sue verschwommen und verä n derlich. Diesen Eindruck hatte ich vermutlich nur deshalb, weil Sue in Wirklichkeit ich selbst war. Wenn ich mit den a n deren plaude r te, war es immer Sue, die sich mit ihnen unterhielt, nicht Aga t ha, und damit wurden Sue und Agatha zu zwei Facetten ein und desselben Wesens. Sue war eigentlich nur Beobachterin und gehörte nicht zu den dramatis personae. Das siebente Mädchen in meiner Sam m lung war Sues Stiefschwester, Vera de Verte. Vera war schrecklich alt – sie war dre i zehn. Noch war sie nicht attraktiv, würde aber später einmal eine strahlende Schönheit sein. Ein Geheimnis umgab ihre Geburt. Sie hatte strohblondes Haar und vergissmeinnichtblaue A u gen.
Eine zusätzliche Hilfe für meine »Mädchen« war eine Mappe mit Bildern aus der Königlichen Akademie, die meine Großmutter in i h rem Haus in Ealing hatte. Sie versprach mir, dass sie eines Tages mir gehören würde, und wenn es draußen re g nete, saß ich stundenlang davor und studierte sie – nicht wegen der künstlerischen Befri e digung, sondern um die passenden Porträts für meine Mädchen zu finden. Ein von Walter Crane illustriertes Buch, das ich zu Weihnachten beko m men hatte – The Feast of Flora – war mit Bildern von Blumen in Me n schengestalt ausge s tattet. Ein ganz besonders reizendes zeigte eine von Vergissmeinnicht umrankte Gestalt, die zweifelsohne Vera de Verte darstellte. Chaucers Gäns e blümchen war Ella, und die anmutig dahinschreitende Kaise r krone Ethel.
Die »Mädchen« leisteten mir noch manches Jahr Gesel l schaft; natürlich veränderten sie mit der Zeit ihre Persö n lichkeit – so wie auch ich älter wurde. Sie spielten I n strumente, agierten in Opern, übernahmen Rollen in Theaterstücken und Singspielen. Selbst als ich schon e r wachsen war, dachte ich gelegentlich an sie und teilte die verschiedenen Kleider in me i nem Garderobeschrank auf sie auf. Ich erinnere mich, dass Ethel in einem dunke l blauen Tüllkleid mit weißen Lilien auf der Schulter sehr gut aussah. Die arme Annie bekam nie viel zum Anzi e hen. Aber ich war immer fair gegen Isabella und gab ihr ein paar wirklich schöne Roben – meist Seide oder b e stickter Brokat. Wenn ich ein Kleid weghänge, sage ich manchmal noch heute leise zu mir: »Ja, das würde Elsie gut stehen, grün war immer ihre Farbe.« Oder: »Dieses dreiteilige Jersey-Set würde Ella wirklich sehr gut passen.« Ich muss lachen, wenn ich das tue – um so mehr als die »Mädchen« ja – im Gegensatz zu mir – nicht älter gewo r den sind. Älter als dreiun d zwanzig habe ich sie mir nie vorgestellt.
Mit der Zeit kamen noch weitere vier Mädchen hinzu: Adelaide, die ä l teste von allen, hochgewachsen, hübsch und ein wenig überklug, Beatrice, eine fröhliche, sprin g lebendige kleine Elfe und die jüngste von allen, sowie zwei Schwestern, Rose und Iris Reed. Im Zusa m menhang mit diesen beiden hatte ich romantische Anwandlungen. Iris hatte einen Ve r ehrer, der ihr Gedichte schrieb und sie »Moorlilie« nannte, Rose war sehr mutwillig, spielte aller Welt Schabernack und flirtete heftig mit den ju n gen Herrn ihrer Umgebung. Einige Mädchen wurden von mir verheiratet, andere nicht. Ethel blieb ledig und lebte z u sammen mit der sanftmütigen Annie in einem kleinen Hä u schen – ein passendes Arrangement, wie ich heute finde: Sie würden genau das getan haben, wenn es sie wir k lich gegeben hätte.
Bald nach unserer Rückkehr wurde ich von Fräulein Uder in die herrl i che Welt der Musik eingeführt. Fräulein Uder war eine gedrungene, drahtige, energische kleine Deu t sche. Ich weiß nicht, wieso sie gerade in Torquay Musi k unterricht erteilte – ich habe nie etwas über ihr Privatl e ben gehört. Eines Morgens erschien Mutter mit Fräulein Uder im Schu l zimmer; sie wünsche, erklärte sie, dass Agatha Klavierspielen lernen so l le.
»Ach!«, sagte Fräulein Uder, die perfekt
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