Meine gute alte Zeit - Teil I
annähernd so viele Flöhe mit sich herumzutragen wie in meiner Kinderzeit. Trotz zah l reicher Bäder, trotz Bürstens und Kämmens waren alle unsere Hunde immer voller Flöhe. Vielleicht trieben sie sich damals mehr in Ställen herum und spie l ten mit anderen von Flöhen heimgesuchten Freunden, als sie es heute tun. Andererseits waren sie weit weniger ve r wöhnt und nicht ständig beim Tie r arzt, wie das heute üblich ist. Ich glaube nicht, dass Tony j e mals ernstlich krank gewesen wäre.
Um Kinder wird heute auch mehr Aufhebens gemacht als damals. E r höhten Temperaturen wurde nicht allzu große Wichtigkeit beigemessen. Erst eine über vierun d zwanzig Stunden anhaltende Temperatur von achtun d dreißig Grad ließ den Besuch eines Arztes als nötig e r scheinen. Hatte man ein Übermaß an grünen Äpfeln ve r zehrt, konnte es schon mal vorkommen, dass man Opfer eines Gallenfieberanfalls wurde. Vierundzwanzig Stunden Bettruhe – verbunden mit Hungerd i ät – erwiesen sich für gewöhnlich als wirksames Heilmittel.
Das Essen war immer gut und abwechslungsreich. Mögl i cherweise neigte man dazu, kleine Kinder zu lange mit Milch und stärkereichen Nahrungsmitteln zu verkö s tigen. Ich allerdings naschte schon in zarte s tem Alter von den Steaks, die Nursie zum Abendessen heraufg e schickt wurden, und nicht durchgebratenes Roastbeef war immer eines meiner Liebling s gerichte. Auch dicke Sahne wurde in Mengen ve r zehrt – sie schmecke doch viel besser als Lebertran, pflegte Mutter zu sagen. Wir aßen sie als Bro t aufstrich und manchmal auch mit dem Löffel. Keine Fr a ge: Sahne war für mich ein Hochgenuss und wird es ve r mutlich i m mer sein.
Mutter, die, wie in anderen Dingen, auch beim Essen Abwechslung liebte, pflegte von Zeit zu Zeit einen Fi m mel zu haben. »Das Ei ist nah r hafter«, lautete einmal die Devise – worauf es praktisch zu jeder Mahlzeit Eier gab, bis Vater Ei n spruch erhob. Dann kam die Fischzeit: Wir lebten von Seezunge und Weißfisch und vermehrten u n sere grauen Zellen. A l lerdings kehrte Mutter nach solchen diätetischen Ausflügen meist bald wieder zu einer norm a len Kost zurück; so wie sie nach Abstechern in die The o sophie und den Unitarismus, nach einem Flirt mit dem Buddhismus, und nachdem sie um ein Haar K a tholikin geworden wäre, am Ende wieder in den Schoß der engl i schen Staatskirche zurückkehrte.
Es war schön, heimzukommen und alles wieder so vo r zufi n den, wie ich es verlassen hatte. Nur eines hatte sich verändert, und das zum G u ten. Ich hatte jetzt meine mir ergebene Marie.
Bis ich mich entschloss, eine Hand in die Kiste meiner Eri n nerungen zu stecken, hatte ich kaum mehr an Marie gedacht – sie war einfach M a rie und Teil meines Lebens. Was um ein Kind herum vorgeht, das ist seine Welt, und dazu gehören auch die Menschen, die sie bevölkern. M a rie – frisch, fröhlich, lächelnd, immer freundlich – war ein sehr g e schätztes Mitglied unseres Haushalts.
Heute frage ich mich: Was waren ihre Gefühle? Ich glaube, dass sie in diesem halben Jahr, das wir auf Reisen in Frankreich und auf den Kana l inseln verbrachten, sehr glücklich war. Sie sah viel Neues, das Leben in den Hotels war angenehm, und merkwürdigerweise fasste sie Zune i gung zu ihrem Schützling. Natürlich möchte ich glauben, dass sie mich gern hatte, weil ich ich war – aber Marie hatte ein Herz für Kinder und würde jedem Kind zugetan gewesen sein, das ihr anvertraut worden wäre – ausg e nommen jene jugendlichen Monstren, auf die man zuwe i len stößt. Ich war ihr gewiss nicht übermäßig gehorsam; ich fürchte, die Franzosen besitzen nicht die Gabe, sich G e horsam zu verschaffen. Ich betrug mich in mancher Hinsicht abscheulich. Ganz besonders war mir das Z u bettgehen zuw i der. Ich erfand ein herrliches Spiel, das darin bestand, dass ich von einem Möbelstück zum and e ren hüpfte, auf die Schränke kletterte, von Tischen und Kommoden heru n tersprang – alles, ohne auch nur ein einziges Mal den Fußboden zu berühren. »Oh, Miss, Miss!«, seufzte Marie. »Madame votre mère ne serait pas conte n te!« Aber Madame ma mère hatte keine Ahnung, was ich da oben trieb. Wäre sie unerwartet im Kinderzimmer aufg e taucht, sie würde die Augenbrauen hochgezogen und g e sagt haben: »Agatha! Warum bist du nicht im Bett?« Es hätte keiner weit e ren Ermahnung bedurft, und ich wäre in zwei Minuten im Bett gewesen. Marie verpetzte mich nie bei der Obrigkeit, sie seuf
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