Meine letzte Stunde
besucht die Pyramiden, ohne vorher zu wissen, welche Könige darin liegen oder sich nachher daran zu erinnern. Beim Tadsch Mahal wissen sie zumindest, dass die Geschichte einer Liebe dahintersteckt. Und mit Notre-Dame in Paris verbinden die meisten Menschen den Gedanken an einen verkrüppelten Glöckner, der nie existiert hat. Aber dank der Geschichte des großen Humanisten Victor Hugo denken wir vielleicht manchmal, wenn wir einen Krüppel sehen, dass auch in ihm ein Mensch steckt, der sich nach Liebe sehnt. [5]
Ins Weltall geschossen, zu Diamanten gepresst oder verscharrt und vergessen
6320 Euro kostet die Verwandlung der Asche eines Verstorbenen zum 0,5-Karäter. Aufgrund der verschiedenen Umwelteinflüsse sowie der Ess- und Trinkgewohnheiten der Verstorbenen ist der Blauton des Diamanten von Mensch zu Mensch verschieden. Die Nachfrage nach dieser besonderen Form der Bestattung steigt bei der Firma mit dem verheißungsvollen Namen „Christ-All“ in der Seegefelder Straße in Berlin-Spandau. Im Gegensatz dazu haben sich die 300.000 Euro teuren Weltallbestattungen bisher als Flop erwiesen. Insgesamt geht es der Bestattungsbranche in Deutschland sehr schlecht. Zwar mangelt es keineswegs an Toten, aber die Selbstverständlichkeit, diese würdig unter die Erde zu bringen und ihnen ein „ehrendes Angedenken“ zu bewahren, nimmt deutlich ab.
Vor allem im Osten und Norden Deutschlands wird heute die Hälfte der Verstorbenen anonym ohne Grabstein, ohne irgendein sichtbares Zeichen beerdigt. Ist es wirklich nur die „Geiz-ist-geil-Mentalität“, die Angehörige immer öfter zweifeln lässt, warum sie nach dem 375-Euro-all-inclusive-Urlaub auf Mallorca plötzlich zwischen 599 bis zu 3000 Euro, die Folgekosten für die Friedhofsgebühren gar nicht eingerechnet, für ein Begräbnis zahlen sollen? „Es gibt Menschen“, sagt Brigitte Schramm, Sprecherin von „Berolina Bestattungen“, „denen ist die Großmutter gestorben, die kommen zu uns und fragen: ‚Muss es denn ein Sarg sein? Reicht nicht ’ne blaue Tüte?‘“ [6]
Aber nicht nur daran, was den finanziellen Aufwand, sondern auch, was die Intensität der Beziehung zu dem Verstorbenen betrifft, scheiden sich die Geister. So fragt Fritz Roth, Betreiber des einzigen privaten Friedhofs in Deutschland in Bergisch-Gladbach, die Hinterbliebenen: „Kannst du dir vorstellen, deiner Mutter, die dich jahrelang jeden Tag für den Kindergarten angezogen hat, selber das Totenhemd anzuziehen?“ Wenn man sich auch nur in Gedanken auf dieses Gefühl einlässt, wie es wohl wäre, die eigene tote Mutter zu berühren und zu bekleiden, dann wird jeder wohl von ganz eigenen Emotionen aufgewühlt.
Wie seltsam erscheint erst die Idee, dass Menschen bis ins kleinste Detail vor ihrer ganzen Familie gereinigt, geschminkt und bekleidet werden, bevor sich alle von dem Toten verabschieden. Und noch verwunderlicher kommt es einem vor, dass man darüber einen Film machen kann, der dann auch noch den Oscar für den besten fremdsprachigen Film des Jahres 2009 erhält. Wir können sehr gut mit der Hauptfigur mitleiden, wenn diese Scheu und Abneigung empfindet, das erste Mal eine alte tote Frau auch nur anzugreifen. Der Film schafft das große Wunder, dass der Gedanke daran, sich einmal selbst liebevoll um einen Toten zu kümmern, innerhalb von 130 Minuten von beklommenem Unbehagen in eine berührende Möglichkeit verwandelt. Mit großer Zartheit und Würde führt „Nokan – Die Kunst des Ausklangs“ in die japanische Zeremonie des Abschiednehmens im Kreis der Familie ein. Die Darstellung des Nokan-Rituals gehört zu den schönsten und intensivsten Momenten, die ich überhaupt je in einem Film gesehen habe. Selten erfährt man respektvoller und anmutiger, dem Tod in das Angesicht zu sehen und dabei langsam seine Scheu zu verlieren.
Offensichtlich kann man Menschen zur Einsicht bringen, dass der Unterschied zwischen einer „blauen Tüte“ und einer würdigen Zeremonie etwas ist, das vor allem ihr eigenes Leben weiter bestimmen wird. Doch sind nicht die vielen Alten, Alleinstehenden, Kinderlosen, die sterben, ohne dass überhaupt jemand um sie trauert, das eigentliche Problem? Das sind Tote ohne jede Trauer. Oft wird ihr Tod erst nach Wochen entdeckt, weil sie niemandem abgegangen sind.
Genau in diese Wunde unserer Gesellschaft stieß die Hospiz-Bewegung, die in den 1980er Jahren aus Großbritannien herüberkam und einen Siegeszug durch die westliche Welt antrat, der bis heute
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