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Meine letzte Stunde

Meine letzte Stunde

Titel: Meine letzte Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Salcher
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um eine neue beginnen zu können. So wie das Samenkorn „sterben“ muss, um eine Pflanze werden zu können, muss unsere Kindheit „sterben“, damit wir Erwachsene werden können. So gesehen bedeutet jeder Tod die Aufgabe von individueller Unabhängigkeit zugunsten von gegenseitiger Abhängigkeit mit anderen.
    „Dies fällt uns natürlich sehr schwer, weil wir unsere völlige Unabhängigkeit verteidigen wollen. Wir denken: ‚Ich schulde niemandem irgendetwas‘, bis wir das erste Mal mit dem Tod konfrontiert werden, mit einem der vielen Tode im Laufe unseres Lebens, wenn wir etwas wirklich aufgeben. Diese Augenblicke erlauben uns, ein Gefühl der Freude zu erleben, die wir empfinden können, wenn wir aus unserer Isolation ausbrechen und Teil von etwas größerem Ganzen werden. Gleichzeitig empfinden wir aber Angst, in diesem Ganzen unsere kostbare Individualität zu verlieren. Richtig verstanden bedeutet der Himmel, das Nirvana, das Göttliche, das Paradies oder wie immer wir es nennen, aber nicht Uniformität, sondern unendlich viel Raum für Unterschiedlichkeit – auch unsere persönliche.“ So erklärt es uns Bruder David, und ich würde mir sehr wünschen, dass es so ist.
    Seit es Menschen gibt, haben sich die Menschen zu wenig Freude gegönnt. Das allein, meine Brüder, ist unsere Erbsünde. Ich möchte an einen Gott glauben, der gut zu tanzen weiß.
    Henri Matisse
    Denken hilft zwar, nützt aber nichts
    Dieses exzellente Buch von Dan Ariely [4] hat mich zur Überschrift dieses Kapitels über den Glauben inspiriert, weil sich hinter dem provokanten Titel keine Verdammung des Denkens an sich verbirgt, sondern gezeigt wird, wo die Grenzen unseres Denkens liegen. Genau so, wie Dan Ariely zeigt, was man mit Denken erreichen kann und was nicht, ist dieses Kapitel über den Glauben zu verstehen. Trotz meiner sehr kritischen Worte über die versuchte Monopolisierung der letzten Stunde durch die Religionen habe ich tiefen Respekt vor allen Menschen, die an einen persönlichen Gott glauben. Auf den Punkt gebracht, würde ich es daher so formulieren:
    Ehrlicher Glaube kann am Lebensende helfen, weil er Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tod gibt. Wenn man aber glaubt, damit die Verantwortung für sein Leben delegieren zu können, nutzt er in der letzten Stunde nichts. Die letzte Stunde teilt die Menschen nicht in die Gläubigen und die Ungläubigen.
    Tun sich Gläubige leichter beim Sterben?
    Elisabeth Kübler-Ross fand in ihren „Interviews mit Sterbenden“ heraus, dass religiöse Patienten sich kaum anders verhielten als solche ohne Glauben. Das hing natürlich auch damit zusammen, dass diese Frage nur schwer von außen zu beurteilen war. Jedenfalls stieß sie nur auf sehr wenige wahrhaft überzeugte Gläubige. Diesen wenigen dürfte ihr tiefer Glaube allerdings durchaus geholfen haben. Selbst bekennende Atheisten verhielten sich ähnlich und fanden interessanterweise auch Halt in ihrer Überzeugung. Die meisten Patienten standen aber zwischen diesen beiden Polen und bekundeten einen Glauben, der im Angesicht des Todes nicht für die innere Befriedung ausreichte. Studien zu diesem Thema dokumentieren, wie komplex dieses Thema ist. So tun sich Menschen mit starker Religiosität und einem barmherzigen Gottesbild in einer lebensbedrohenden Situation leichter als die ebenfalls strenggläubigen, die sich aber vor einem strafenden Gott fürchteten. [5] Die Erfahrungen in Hospizen zeigen auch, dass Menschen am Ende nur sehr selten plötzlich gläubig werden.
    Die letzte Stunde des Atheisten ist deshalb schwierig, weil er auf die Nulllinie zugeht und nicht auf etwas Besseres danach hoffen kann. Umso mehr muss die letzte Stunde des Atheisten in sich selbst ruhen, denn er wird sie genau so empfinden, wie er selbst in den Rückbetrachtungen den Weg bis dahin beurteilt. Wenn seine verstandesmäßige Sicht der Welt und sein tatsächliches Verhalten zu sehr auseinandergeklafft haben, wird es sehr eng, weil nicht mehr korrigierbar. Für ihn gibt es kein Jüngstes Gericht, kein Karma, keine weitere Chance, kein Aufgehen in einer höheren Ordnung, er fällt auf sich selbst zurück. Nachdem er alle anderen Beurteilungen außer seiner eigenen ablehnt, was durchaus ein Vorteil sein kann, muss man ihm wünschen, dass seine intellektuelle mit seiner seelischen Reife auf Augenhöhe ist.
    Eines verbindet den Atheisten mit dem Tiefgläubigen. Es gibt immer nur zwei Arten von Menschen: die Anständigen und die Unanständigen. Sie

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