Meine letzte Stunde
sie nicht mehr in Geschäften stöbern und auswählen. Das größte Geschenk, das man ihr daher machen kann, ist herauszufinden, wem sie etwas schenken will. Und in dem Augenblick, in dem man den Schalter in seinem Innersten von Pflichterfüllung auf Liebeschenken umgelegt hat, empfindet man auf einmal selbst viel Freude. Warum konnte man glauben, dass nur der geliebte Partner in der Phase der Verliebtheit empfänglich für jedes noch so kleine Geschenk ist, und nicht die eigene Mutter?
Es sind nicht die großen Gesten, es geht um das Handhalten, um das Eingehängt-Gehen, um das Umarmen beim Begrüßen und Abschiednehmen. Man erkennt, wie sehr es die kleinen Wegzehrungen des Lebens sind, die Nahrung für die Seele bedeuten.
Es geht um die Energie, mit der wir auf das Zimmer des zu Besuchenden zueilen. Gerade wenn wir bei der Anreise in einen Stau geraten sind, wollen wir in sinnloser Eile möglichst schnell die Treppen hinaufstürmen, als könnten wir die verlorene Zeit wieder einholen. Dann sollten wir uns angewöhnen, diesen einen Augenblick zu verharren, nicht auf der ersten, nicht auf der zweiten, vielleicht auf der dritten Stufe, um bewusst zu atmen, und uns genau vorstellen, wie wir dann auf den anderen zugehen werden, wie wir unseren Stress und unsere Sorgen hinter der Tür zu seinem Zimmer lassen, um ihm die ganze Aufmerksamkeit und Fürsorge zu schenken. Dass man sich bückt, um jenem Menschen die Schuhe zu binden, der uns selbst so oft die Schuhe gebunden hat, ist selbstverständlich, entscheidend ist die Qualität, in der man es tut. Aus der Pflicht kann immer eine Möglichkeit werden, jede Begegnung so zu gestalten, dass sie Raum für Freude und Überraschung bietet – für meine Mutter und auch für mich.
Geliebt werden, so wie wir sind
Die Liebe gibt uns das Gefühl, einzigartig zu sein. Geliebt zu werden hebt unser Selbstwertgefühl in lichte Höhen und hilft uns, in Phasen der Niederlagen nicht zu zerbrechen. Im Positiven kann uns die Liebe zu beeindruckenden moralischen Leistungen bis zum Selbstopfer motivieren, im Negativen zu Hass, Eifersucht, Krieg und Zerstörung führen. Helena und Penelope in den Homerschen Epen stehen für beide Seiten dieser Medaille. Die größten Helden Griechenlands und Trojas wurden der Liebe des jungen Prinzen Paris zu Helena geopfert. Und Odysseus ließ sich auch nach sieben Jahren auf der Insel von Kalypso nicht davon abbringen, zu seiner geliebten Penelope zurückkehren zu wollen. Selbst ihr letztes Angebot, die Unsterblichkeit, konnte ihn nicht umstimmen. Penelope wartete ihrerseits wiederum entgegen allen Wahrscheinlichkeiten auf die Rückkehr des verschollenen Geliebten. So klischeehaft diese alten Mythen auch erscheinen, so sehr beweist sich ihre Lebenswahrheit jeden Tag in den Zeitungsberichten über groteske Eifersuchtsmorde und berührende Liebesgeschichten.
So wird der laute Christoph Schlingensief auf einmal ganz leise, wenn er in dem Buch über seine Erkrankung beschreibt, wie sich seine Freundin Aino liebevoll um ihn kümmert, wie er seinen Kopf auf ihren Schoß legt und sie dann beide einschlafen. Das sei sehr, sehr schön gewesen. Hier werden die Ursehnsüchte angesprochen, und auf einmal spielt es keine Rolle mehr, ob man in Schlingensief einen gnadenlosen Provokateur oder einen genialen Künstler sieht, man freut sich nur mit ihm, dass es diesen Schoß gibt, in den er seinen Kopf legen kann. Wir verstehen auch seine Urangst, dass die Freundin ihn verlassen könnte, weil wir alle schon einmal Angst hatten, dass unsere Mutter, die uns pflegte, auf einmal nicht mehr kommen könnte. Und wir freuen uns über die schönen Momente, wenn er mit seiner Aino friedlich nebeneinander liegt und Händchen hält. [4]
Wenn wir die wahren Motivationen hinter den Dingen, die wir mit so großem Einsatz anstreben, wie Geld verdienen, Macht vermehren, berühmt werden, die Welt erobern usw., alle in einen Kochtopf werfen und so lange einkochen würden, bis nur eine Essenz übrig bliebe, dann wäre es diese: Wir wollen geliebt werden. Vor allem wollen wir so geliebt werden, wie wir sind. Das verlangt den Mut zur Wahrheit uns selbst gegenüber und Offenheit gegenüber dem anderen. Oft tun wir aber genau das Gegenteil. Wir stopfen immer mehr in unser Leben hinein, um unseren Partner, unsere Familie und oft sogar völlig fremde Menschen dazu zu bringen, uns zu lieben. Dabei müssten wir unsere Herzen und unseren Mund öffnen und aussprechen, was wir fühlen, was wir
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