Meine letzte Stunde
„Elle s’appelle Sabine“ von Sandrine Bonnaire über ihre 38-jährige Schwester Sabine, die seit ihrer Kindheit an Autismus leidet, zeigt die Besuche des französischen Filmstars in Sabines Pflegeheim, wo diese nach einem fünfjährigen Aufenthalt in einem psychiatrischen Spital endlich einen passenden Platz gefunden hat. Diese Bilder, die sie durch den Alltag begleiten, werden immer wieder von alten Familienaufnahmen unterbrochen, die eine andere, frühere Sabine zeigen: Momente des Glücks, aber auch der Ungewissheit über den Weiterverlauf der Krankheit.
„Was bedeutet Liebe für Dich?“, fragt Sandrine Bonnaire einmal gegen Ende des Filmes ihre Schwester, und diese antwortet mit einfachen Worten: „Sie macht mich glücklich.“ Immer wieder stellt Sabine die Frage, wann denn der nächste Besuch ihrer Schwester anstünde und ob der jetzige noch andauern würde. Das war der Moment, wo ich dachte, der ganze Film sei nur für mich gedreht worden, um mich an meine Mutter zu erinnern, die sich immer sehnsüchtig auf das nächste Treffen freut. „Wann kommst Du wieder zu mir?“ ist wohl eine Frage, mit der fast jeder irgendwann im Lauf seines Lebens umzugehen lernen muss. „Wann kommst Du?“ und „Ein bisschen kannst Du noch bleiben“: Zwischen diesen beiden Sätzen liegen die Zeit des schlechten Gewissens und die vielen kurzen Anrufe, um dieses zu beruhigen. Kleine Geschenke und Aufmerksamkeiten sind die Bestechungsversuche, mit denen wir uns selbst davon ablenken wollen, dass wir den uns Anvertrauten zu wenig von dem einzig wirklich Wichtigen geben – unsere Zeit.
„Elle s’appelle Sabine“ ist ein mutiger Film, der auch ein großes Stück vom privaten Leben der populären Schauspielerin preisgibt. In der Publikumsdiskussion nach dem Film wird Sandrine Bonnaire gefragt, ob sie Schuldgefühle gegenüber ihrer Schwester hätte. Sie verneint und weist auf die großen Probleme hin, die sie trotz ihrer Bekanntheit hatte, einen geeigneten Platz für Sabine zu finden. Dass Sandrine Bonnaire eine großartige Schauspielerin ist, wusste ich schon vor diesem Abend, dass sie auch ein beeindruckender Mensch ist, habe ich dazugelernt. [3] Und dass jeder seine Prüfungen im Leben zu bestehen hat, ganz egal, wie prominent er ist. Vor allem habe ich aber gesehen, dass es nicht um schlechtes Gewissen geht, sondern um die einfache Entscheidung, das Richtige zu tun – und viel Freude daran zu haben. Meine unzähligen Rechtfertigungen vor mir selbst, warum ich oft mit dem Einfachen und Zumutbaren so zu kämpfen hatte, kamen mir auf einmal sehr kläglich vor. Das Beispiel von Sandrine Bonnaire zeigt, dass es einen Weg gibt zwischen der totalen Selbstaufgabe und dem Wegschieben eines lieben Menschen, der der Zuneigung und Hilfe bedarf. Es ist ein Weg des Herzens und der Vernunft. Das war der Tag, an dem ich beschlossen habe, aus meinem Ritual „Ich habe ohnehin jeden Tag meine Mutter angerufen“ auszusteigen.
Die einfache Wahrheit lautet: Meine Mutter braucht mich nicht täglich am Telefon, sondern möglichst oft bei sich. Im Alter werden wir offensichtlich wieder zu Kindern. So wie wir uns im Ferienheim über den Besuch von Mutter und Vater gefreut haben, warten wir im Alter sehnsüchtig auf die Besuche unserer Kinder und Enkelkinder. Die Vernunft lehrt einen, dass sich im Lauf der Jahre der Spielraum der Möglichkeiten, sinnvoll Zeit miteinander zu verbringen, dramatisch verringert. Die so lange hinausgeschobene gemeinsame Reise wird dann aus gesundheitlichen Gründen gar nicht mehr möglich, ja selbst der Ausflug ins Grüne erweist sich als nicht mehr realisierbar, wenn wir es uns selbst vielleicht am meisten wünschen würden. Moralische Appelle an uns selbst tun das, was sie immer tun, sie verhallen ungehört. Und je mehr wir darüber nachdenken, umso schlechter fühlen wir uns. Ich erkannte, dass ich mein Wesen, wie ich an wichtige Dinge in meinem Leben heranging, auch im Verhältnis zu meiner Mutter nicht verleugnen konnte, sondern es im Gegenteil dafür nutzen sollte. Ich ging es auf meine Art an und auf einmal fluteten die Ideen und, was noch wichtiger war, ich spürte Freude und Energie.
Hat man einmal begonnen, aus einer sozialen Verpflichtung ein Abenteuer zu machen, fühlt man sich auch sofort wieder mit der Urquelle der Liebe gegenüber seinen Eltern verbunden. Nehmen wir die hohe Kunst des Schenkens als Beispiel: Meine Mutter hat immer gerne geschenkt und jetzt an ihre Betreuungswohnung gebunden, kann
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