Meine letzte Stunde
unzureichend vor, mit seinen kleinen Sorgen und Verletzungen, seinen Jammereien über die Ärgernisse des Alltags. Das schlechte Gewissen meldet sich, weil man noch nie Knochenmark oder Blutplättchen gespendet hat, wo man doch damit zumindest ein Leben irgendwo auf der Welt retten könnte. Denn im Gegensatz zum Blutspenden sind Stammzellen extrem individuell, und diese Therapie kann nur funktionieren, wenn es Millionen von Spenderzellen zur Auswahl gibt, um die eine passende zu finden. Würde nicht schon allein das Wissen, dass man einem Kind das Leben gerettet hat, die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens leichter machen? [1]
Es war ein Detail, das mich darauf stieß, warum ich eigentlich dort war. Der kurze Blick in eines der Zimmer, in denen immer zwei Betten standen, eines für das Kind und eines für die Mutter, zeigte mir deutlich, warum ich tiefer in diese verdrängte Welt eindringen sollte. Trotz der Leere des Zimmers spürte man das starke Band zwischen Mutter und Kind, konnte man sofort nachfühlen, wie sehr man sich selbst in dieser Situation die ständige Nähe der geliebten Mutter wünschte, auch das, was in einer Mutter vorgehen musste, die bis zuletzt gehofft hatte, dass sich alles als ein böser Albtraum oder Irrtum herausstellen würde. Um dann die Stimme des Arztes nur mehr in weiter Ferne zu hören, während sie den Boden unter den Füßen verlor, und minutenlang ohne Halt frei nach unten zu fallen, als ob man sie aus einem Flugzeug geworfen hätte. Von einer Minute auf die andere stülpt sich das Leben völlig um und irgendwann findet sich die Mutter in der ersten Nacht in einem dieser Zimmer wieder, nachdem man sie davon überzeugt hatte, dass sie mit ihrem Kind nicht mehr nach Hause durfte, sondern sofort hierbleiben musste.
Mir wurde klar, dass ich an diesen Ort geführt worden war, um etwas über die stärkste Kraft des Menschen zu lernen, dass ich sie hier am besten begreifen konnte, wo das Unbegreifliche tägliche Realität war: die selbstlose Liebe in ihrer reinsten Form. Nirgends zeigt sich so deutlich, wie stark die Kraft der Liebe sein kann, als wenn Mütter den Kampf um das Überleben ihrer Kinder aufnehmen. Das klingt vielleicht allzu selbstverständlich – eine Mutter bleibt bei ihrem Kind –, aber dieses Miteinander-Leben in einem zehn Quadratmeter großen Zimmer geht über jede Grenze des Vorstellbaren. Es bedeutet für die Mütter, ohne zu zögern ihr normales Leben, ihren Beruf aufzugeben, ihre Beziehung zu riskieren, um ein, zwei, manchmal auch fünf Jahre lang um das Leben ihres Kindes zu kämpfen. Von Vätern wird erwartet, trotz der emotionalen Betroffenheit, im Beruf weiterhin perfekt zu funktionieren, um die wirtschaftliche Existenz nicht zu gefährden. Die betroffenen Eltern entwickeln auf einmal so ungeheure Kräfte, dass sie sich nachher selbst fragen, wie sie das schaffen konnten. Offensichtlich besitzen wir Kraftreserven, die uns helfen, über uns hinaus zu wachsen und auch schwierigste Situationen zu meistern.
Doris Koller, Seelsorgerin von St. Anna, ist kein einziger Fall in Erinnerung, wo eine Familie in der Phase der Prüfung zerbrochen ist. Die Liebe mobilisiert unglaubliche Energien im Menschen, aber Wunder kann sie keine bewirken. Nein, die Liebe überwindet nicht den Tod. Liebe kann auch heißen, das eigene Kind gehen zu lassen, ihm zu sagen, dass es nicht mehr für Mama und Papa kämpfen müsse. Eine letzte Stunde hat sich bei mir besonders eingeprägt: Die Tochter saß in einem Fernsehsessel, zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter, und schaute auf ein selbst gemaltes Bild, das eine Sommerwiese darstellte. Sie sagte dann: „Seht, da bin ich jetzt ganz am Rand. Ein bisschen dauert es noch, aber ich bin schon auf der Wiese.“ Der Vater und die Mutter weinten natürlich in dieser Situation, viele Taschentücher wurden gebraucht. Dann verlangte auch die Tochter, dass man ihr ein Taschentuch in den Pyjama steckte – zum Winken. Davor bat sie noch ihre Eltern, immer füreinander da zu sein und auf ihren Bruder gut aufzupassen.
Allem Anschein nach ist die mütterliche Fürsorge die Ursprungsquelle der Liebe. Sie baut auf der umfassendsten Erfahrung menschlicher Verbundenheit auf. Dieses Band wird in den ersten Lebensmonaten geschmiedet und alle späteren intimen Erfahrungen mit Partnern auf seelischer, emotionaler und körperlicher Ebene werden von der Sehnsucht nach diesem glücklichen Urzustand geprägt. [2]
„Wann kommst Du wieder zu mir?“
Der Film
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