Meine Mutter, die Gräfin
Industrien – und alle können dazu beitragen, alle Bibliothekare, Buchhändler, Künstler, Schriftsteller, Gelehrten, ja, Lehrer!«
»›Jesses, stell dir nur vor, wenn erst einmal alles ins Rollen gekommen ist, werde ich ganze Heerscharen von Mitarbeitern beschäftigen!‹
›Achtung‹, schrie ich, denn Gottlieb Wahrmund hatte in seinem Eifer nicht bemerkt, dass das Dach aufgehört hatte, und schwebte schon mit einem Bein über dem Abgrund.«
Die Geschichte über den enthusiastischen Buchhändler stammt vermutlich aus dem Frühjahr 1933 – daher auch die gewichtigen Namen, Wahrmund und Peter Lorenz. Denn Stenbock fuhr zu seinen ehemaligen Schwiegereltern, um sich dort zu verstecken, als Hitler an die Macht kam. Und sie empfingen ihn mit offenen Armen, sogar Emilie, der es erfolgreich gelang, ihre wahren Gefühle zu verbergen, jedenfalls nach Stenbocks Memoiren zu urteilen – sein Blick schweift über ihre müde Erscheinung: Eine Frau voller Charme, die einst eine Schönheit gewesen sein muss …
Irgendwie gelang es ihnen, sich auch in Leipzig ein Leben aufzubauen. Als Emilie aus ihrem Haus in Leipzig einen Dankesbrief an ihr enfant chérie schreibt, die im September 1932 endlich ihre Mutter für ein paar Wochen bei sich zu Besuch hatte – bevor all die Männer wieder um ihre Aufmerksamkeit und Liebe buhlten –, dankt sie ihr dafür, dass der Aufenthalt ihr ein wenig Mut geschenkt habe, den sie nur zu gut gebrauchen könne. Bei der Gelegenheit berichtet
sie auch von einem grand souper bei Herrn Brandstetter und über Herrn Koehler, ihre neuen Bekannten sowie von einer kleinen Katze, die sich bei ihnen niedergelassen habe, und dass Herr Brandstetter das Radio installieren lassen wolle, das sie von Lottie geschenkt bekommen habe (und da geht wieder ein Stück Glaubwürdigkeit der Geschichte von Alexander alias Peter Lorenz flöten, oder? Denn dafür war schließlich Elektrizität vonnöten). Und sie schickt Kuchen und Weihnachtsgeschenke und das Leben geht wieder seinen normalen Gang – ja, sie fangen sogar wieder damit an, Märchenspiele für Kinder aufzuführen. »Arbeit haben wir bis über beide Ohren«, wie Fritz an Lottie schrieb. »Sie müsste nur noch Geld abwerfen!«
Leni ist allerdings nicht in Leipzig. Sie war auch – mit Bronchitis und »Nervosität« – zusammengebrochen. Sie befindet sich in Süddeutschland in der hübschen kleinen Stadt Besigheim, wo sie vermutlich als eine Art Haushaltshilfe arbeitet, und Lottie macht sich Sorgen: »Man mag sich gar nicht vorstellen, wie solche kleinen Schwestern ausgenutzt werden können«, schreibt sie im November traurig heim. Aber es sei auch keine Lösung, dass sie wieder nach Hause zurückkehre, um ihrer Mutter wieder zur Hand zu gehen, wie Papa Fritz vorschlägt – nein, wirklich nicht! »Am Besten wäre es, wenn sie heiraten würde«, schreibt Lottie ihren Eltern. Aber das findet Leni nicht. An Leni richtet sie in jenem Herbst 1932 vor allem die eine Botschaft: Fahr nicht nach Hause!
»Ich finde nicht, dass Du nach Hause fahren solltest. Es ist viel besser, wenn Du erst einmal eine Weile allein dort bleibst, d.h. Umgang mit anderen Menschen pflegst. Du musst auch mal an Dich und Dein Weiterkommen denken. Das täte Dir gut, und Du zählst auch, weißt Du?«
»Du sollst nicht dorthin fahren, zieh das nicht einmal in Erwägung! Dann kommst Du nie mehr von dort weg und helfen tut's auch nicht, das würde nur eine Hungerei zu dritt werden.«
Und erneut im September: »Geh nicht nach Leipzig, hörst Du? Du kannst zu mir kommen, uns fällt schon etwas für Dich ein.« Als hätte sie, Charlotte, vage geahnt, was das Schicksal ihrer Schwester bescheren sollte. Allein in der düsteren Wohnung in der Reginenstraße 14 zurückzubleiben.
Sommer 1932 in Berlin.
Kapitel 6
»Bunte Zeiten, ma chérie«
Berlin – Zürich – Prag 1932-1934
Wir wussten, dass es ihn gegeben hat. Wir wussten, dass sie ihn geliebt hat. Wir kannten seinen Namen: Heinrich Kurella. Ich habe keine Erinnerung mehr daran, wie oder wann sie uns von ihm erzählte; es war etwas, das wir immer wussten – dass unsere Mutter Heinrich Kurella geliebt hat. Dass er in der Sowjetunion verschwand und dass alles, was ihr von ihm geblieben war, jener schöne Opalring war – dieser große Stein, der schöner strahlte als der schönste Sonnenuntergang. Den Ring, den sie ausgewählt hatte, als sie aus der Sowjetunion reiste und Heinrich blieb, und die Grenzpolizei oder der Zoll sie
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