Meine Mutter, die Gräfin
Naturgeschichte des Verbrechers . So ganz scheint er aber nicht an eine angeborene Schlechtigkeit zu glauben, sondern sah in Gelegenheitsverbrechen eher – und vor allem? – eine Folge von sozialer
Not. In einer kleinen Broschüre von 1902, Der neue Zolltarif und die Lebenshaltung des Arbeiters , plädierte er dafür, dass auf Lebensmittel keine Zölle erhoben werden sollten – die Arbeiter würden sich hochwertiges Essen nicht mehr leisten können, was schreckliche medizinische, kulturelle und nationale (Emigration) Konsequenzen für die Bevölkerung des Landes hätte. Er gehörte der ersten Generation von Liberalen an, denen ein starkes Pathos für soziale Reformen und Rassenhygiene anhaftete – zweifellos gehörte er zur ersten »Ingenieursgeneration«, die an einem Sozialsystem bastelte. Dieses Interesse für alles, was mit Vererbung, Rasse und Umwelteinflüssen zu tun hatte, führte auch dazu, dass er sich intensiv mit den Stammbäumen begabter Familien beschäftigte, wozu er mit Sicherheit auch seine eigene zählte – so führte er Statistiken über die Verwandtschaftsverhältnisse berühmter Schriftsteller, Künstler und Musiker, und so versuchte er auch, während er im Sommer 1893 an der Wiege seines erstgeborenen Sohnes saß, eine Prognose zu stellen, die die Lebenserwartung seines Sprösslings betraf. Sie fiel positiv aus für den Kleinen (der jedoch bald darauf sterben sollte), existierten doch mütterlicherseits eine Reihe böhmischer Musiker, pommerscher Junker und polnischer starosta (Landräte) in der Verwandtschaft. Und was dachte er über seinen Sohn Albert, der zwei Jahre später geboren wurde? Und den kleinen Heinrich? Und Tania? Hegte er wie der von ihm bewunderte Lombroso Gedanken über die biologische Unterlegenheit der Frau?
Die Familie, in die Heinrich hineingeboren wird, ist eine überaus elitäre, bildungsbürgerliche Familie; eine Familie, in der das Genie verehrt wurde, in der der Sozialdarwinismus als Wissenschaft galt und in der Veredelung, Differenzierung und soziales Pathos eine große Rolle spielten.
Aus Alfred Kurella wurde ein Schriftsteller, was das betraf, traf die Prognose seines Vaters Hans ein, wenngleich auch nicht ganz so, wie er es gedacht hatte. Wenn man sich Alfreds Geschichte ansieht, so ist sie zeittypisch: Da sehen wir den jungen Gymnasiasten, der sich der Wandervogel-Bewegung anschließt, die so viele damals angezogen hat, da zieht er als Freiwilliger in den Ersten Weltkrieg – einer jener jungen Männer, deren Schicksal Ernst Toller so eindringlich schilderte –, ja, und da, 1916, steigt er aus und entgeht dem Krieg aufgrund einer – simulierten? – Erkrankung, da fängt er an, als Lehrer zu arbeiten und da als Journalist, und da wendet er sich dem Sozialismus zu und da wird er Kommunist.
Er wird einer der jungen Pioniere, begegnet sogar 1919 Lenin in Moskau, ist an der Gründung der KJI , der Kommunistischen Jugendinternationale, beteiligt, arbeitet für ein Jahr als Redakteur der Zeitschrift Komsomolskaja Prawda , steht zwischen 1924 und 1929 einer Jugendschule der Kommunistischen Internationale vor und ist gleichzeitig stellvertretender Leiter der Agitprop-Abteilung – der Propagandaabteilung – des EKKI . Unter anderem. Und alles in der Sowjetunion.
Dann gerät seine Karriere ins Stocken – er wird bezichtigt, ultralinke Positionen zu vertreten, und kehrt nach Deutschland zurück, wo er als freier Schriftsteller arbeitet und in der KPD aktiv ist. 1931 verfasst er das Buch Mussolini ohne Maske , erhält eine neue Chance, ist kurz darauf zurück in Moskau, arbeitet als Sekretär des Generalsekretärs der Komintern Georgi Dimitrow – was zweifellos ein hoher Posten war –, fällt aber im Februar 1935 wegen einer unüberlegten Teilnahme an einem geselligen Abend ehemaliger Funktionäre der Kommunistischen Jugendinternationale erneut in Ungnade. Aufgrund des kommunistischen Engagements seines Bruders verbietet man ihm, unter seinem Familiennamen zu publizieren, und vorläufig hält er sich ganz zurück. 1937 –
man beachte das Jahr – wird er Leiter der wissenschaftlich-bibliografischen Abteilung der Moskauer Zentralbibliothek für ausländische Literatur; in diesem Jahr – man beachte wieder das Jahr –, wird er Bürger der Sowjetunion. Erst 1954 kehrt er wieder nach Deutschland, sprich in die DDR , zurück – Danke, Ulbricht! – und wird Direktor des Institutes für Literatur in Leipzig.
Ob Leni ihn dort wohl aufsucht? Guten Tag, ich soll
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