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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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Sie von meiner Schwester grüßen. Sie fragt sich, ob du (Sie?) weißt, was mit Ihrem Bruder passiert ist. Ja, du hast sie getroffen, mehrmals. Du erinnerst dich doch sicher noch an Charlotte? Die schöne Lottie?
    Heute?
    In Schweden. Verheiratet. Aber sie würde gerne wissen, was mit deinem Bruder geschehen ist –
    Und du weißt es wirklich nicht?
    Auf Wiedersehen.

    Alfred hatte Erfolg. Er bekam eine leitende Stellung in der Deutschen Akademie der Künste und im Schriftstellerverband der DDR und leitete die sogenannte Kulturkommission innerhalb des Politbüros des Zentralkomitees der SED – jetzt beschäftigt er sich voll und ganz mit dem Sozialistischen Realismus –, und von 1963 an war er sogar Mitglied der Ideologischen Kommission des Politbüros – war also im Zentrum des geheimnisumwitterten, dunklen Herzens der DDR . Schließlich wurde ihm auch die Ehrendoktorwürde der Friedrich-Schiller-Universität zu Jena verliehen, er bekam den Karl-Marx-Orden und andere feine Auszeichnungen und starb 1975 – im Alter von 80 Jahren – reich an glücklichen Fügungen und Erfolgen, könnte man sagen.
    Mir fällt Alfred Kurellas kleine Propagandaschrift Ich lebe in Moskau von 1947 in die Hände. Gedruckt auf schlechtem Papier – kein Wunder nach dem großen vaterländischen
Krieg. Auf seine Art ist es gekonnt geschrieben – Ziel ist es, dem feindlichen Ausland vor Augen zu führen, wie der Alltag, die Normalität, die Annehmlichkeiten des Alltagslebens in Moskau aussehen: Alles ist wie bei euch, nur besser: Die Mieten sind niedriger, Arztbesuche umsonst, ebenso die Kindertagesstätten, die Schulen usw. Tyrannei? Hört gut zu: Ich kann jedes ausländische Buch erstehen, das ich haben möchte! Usw.
    Ich werfe das hässliche braune Buch zur Seite. Von wegen!
    Zu dem Zeitpunkt war sein kleiner Bruder, der blasse Heini, schon seit zehn Jahren tot – war »liquidiert«. Ob ihm das wohl bekannt war?
    Die Begegnung
    Es ist keine Frage, dass Heinrich seinen großen Bruder bewundert haben muss. Er selbst war zehn Jahre jünger, 1905 geboren. Als er neunzehn war, wurde er Mitglied der Kommunistischen Jugendinternationale, kurz darauf Journalist bei der Roten Fahne , und im Januar 1928 trat er der KPD bei, wo er zu den »Versöhnlern« gehörte. 1930 wurde er leitender Herausgeber der Inprekorr – was ihm eine Festungshaft in Gollnow einbrachte –, wo er Scheringer zum Kommunismus bekehrte. Meine Mutter wird ihn in dem Frühjahr kennengelernt haben, in dem Otto starb und sie der Roten Hilfe beitrat, das geht zumindest aus einem von Emilies Briefen hervor. Vielleicht waren sie sich auch schon früher über den Weg gelaufen, bei irgendeinem Fest oder einer Veranstaltung im Sommer 1930. Das Verbindungsglied stellte womöglich Alexander dar.

    Hierher, Heinrich! Servus! Wie geht's? Kennst du schon Lottie, meine Frau?

    Vielleicht haben sie sich auch über Tania, Kurellas Schwester, die Gymnastikerin war, in ihrer großen eleganten Praxis am Karlsbad (wie Margret Boveri schreibt) oder in ihrer Wohnung kennengelernt, wo man manchmal Bertolt Brecht antreffen konnte (schreibt Stenbock). Ganz bestimmt sind sie sich in den radikal linken Kreisen in Berlin begegnet, in denen Künstler, Schriftsteller, Schauspieler und Politiker verkehrten: Jenes Leben, das sich hinter den auf Mamas kleinem Zettel festgehaltenen Namen verbirgt, hinter ihren autobiografischen Notizen – Glaser, André, Lupine, Brentanos (Bernard von Brentano), Armiers, Herzfeld.

    Wer ist das? Die Dunkelhaarige?
    Das weißt du nicht? Stenbocks Frau – Charlotte. Komm, ich stelle dich ihr vor!

    Er hat sich auf Anhieb in sie verliebt. So zeigt er Grete ein Foto von ihr – es muss sich um eine der Studioaufnahmen aus Czernowitz gehandelt haben –, ein Fin de siècle -Gesicht »mit schmachtenden Augen und lieblichen Zügen, die durch die etwas zu kurze Oberlippe überzart, fast zerbrechlich wirkten«, von der aus uns das Mädchen Charlotte mit retuschiertem Blick ansieht, sie hat sehr zarte Wangen und eine zu einem weichen Knoten gesteckte Frisur. Die Unerreichbare. »Das ist Charlotte. Ich liebe sie«, hatte er schlicht erklärt. Fernab von allem Weimar'schen Zynismus. Ich liebe sie. Und sie, die ihn zuerst nicht bemerkt hat, verliebt sich auch: Ich bin so froh, »dass ich überhaupt lieben kann«, wie sie im Frühjahr 1932 nach ihrem »Nervenzusammenbruch« nach Hause schreibt.
    Sie sind fast gleichaltrig; er ist nur ein Jahr älter. Beide sind sie in Kleinstädten,

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