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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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in intellektuellen Familien aufgewachsen. Er ist der kleine Bruder. Sie die große Schwester.
    Und Otto ist erst ein Jahr tot; Otto, der blonde, schmale Junge.
    Und wo Alexander sie mit seinen Geschichten, seinem einnehmenden Charme, seinen Abenteuern, seinem unsichtbaren Schloss, das er immer mit sich trug, geblendet hatte, eroberte Heini, wie ich glaube, ihr Herz durch seine Empfindsamkeit, seine Fürsorge und seine Intelligenz. Oder durch seinen Humor? Sein soziales Pathos, seinen Ernst? Lockte sie mit seiner Liebe? Nahm ihr Herz im Sturm? Zog sie an wie der Honig die Bienen? Brachte sie dazu, ihn zu lieben? Schenkte ihrer Seele Freude und ihrem Körper Glück?
    Müller und die Kaderakten
    Aber ich weiß nicht, wie er aussieht; suche ihn zwischen Mamas Fotos – dunkelhaarige Männer, blonde Männer, unidentifizierbare Männer – wer? Nicht darunter? Ich setze meine Suche im Internet fort, suche nach Deutschen im Moskauer Exil – und finde ihn. Heinrich Kurella. Er wird namentlich in einem Artikel des Wissenschaftlers Reinhard Müller erwähnt, der u.a. über die sogenannten Kaderakten aus dem Archiv der Moskauer-Komintern forscht, die nach dem Fall der Sowjetunion für Wissenschaftler öffentlich zugänglich gemacht wurden. Kurellas Name ist einer unter vielen in diesem Artikel, der nachzeichnet, wie vom sowjetischen Geheimdienst der Sowjetunion NKWD buchstäblich ein sogenannter fiktiver »Antikomintern-Block« konstruiert wurde, und zwar gleichzeitig mit dem ersten der sogenannten Moskauer Schauprozesse, dem gegen Sinowjew im August 1936, Scheinprozesse, in denen groteske Anschuldigungen wegen Verrats und Spionage gegen die eigenen Bolschewiken in hohen Positionen erhoben wurden.
    Müller fasst die Opfer dieser großen Hexenverfolgung in Gruppen. Hinter der Sammelbezeichnung Antikomintern-Block filtert er nicht weniger als dreizehn Gruppen heraus, die Säuberungen zum Opfer fielen: Ehemalige Sekretäre des EKKI , Leiter und Mitarbeiter aus der Kaderabteilung des EKKI , Angestellte des Komintern-Apparates und Gehilfen von Sekretären des EKKI , ehemalige rechts- und linksoppositionelle KPD -Funktionäre, Schauspieler der Kolonne Links , Kinder von Emigranten, Zeitschriftenredakteure, Lehrer und Schüler der Lenin-Schule, Angestellte, Mitarbeiter und Bewohner des Heims der Politemigranten, Ingenieure und Arbeiter – und einige andere Bedauernswerte, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren.

    Heinrich Kurellas Name taucht in der Gruppe »ehemalige rechts- und linksoppositionelle, degradierte KPD -Funktionäre« auf – er gehörte demnach zu den Kadern.
    Reinhard Müller – mein Jahrgang, wie ich feststelle – war damals für das Hamburger Institut für Sozialforschung tätig. Ich mache seine Mailadresse ausfindig und schicke ihm meine Frage: Was er speziell über Kurella wisse?
    Es dauert nicht lange und ich bekomme Antwort. Auf leicht holperigem, aber doch als Schwedisch identifizierbarem Schwedisch schreibt mir Müller, dass er momentan in der Gegend von Vetlanda (Schweden) wohne (Sommerhaus) – Sie dürfen mich gern anrufen! – und dass er einen »cadre-file« über Kurella besäße und ihn in einem Artikel über die »Versöhnler« publizieren wird – diese Fraktion innerhalb der KPD , zu der Kurella gehörte. Ich rufe in Småland an. Wir unterhalten uns lange – er in gebrochenem Schwedisch, ich in miserablem Deutsch. Ja, er hätte die vollständige Kaderakte über Kurella. Ja, ich könne eine Kopie bekommen. Ja, sie enthält auch Fotos. Und dann schickt er sie mir. Und da sehe ich ihn – den Mann, den Mama geliebt hat. Oder vielmehr – den Jungen.

    Die junge Charlotte Schledt.

    Wie jung er ist! Mir treten Tränen in die Augen – ich bin ganz geschockt. Da, zwischen dem Haufen abfotografierter Papiere und hingekritzelter A4-Bögen, die ich kaum ent
ziffern kann, und ich mir nur überlege, wie ich sie technisch vergrößern kann, wie ich sie lesbarer machen, ausdrucken kann – da stoße ich auf dieses Gesicht. Das Bild muss Mitte der Zwanzigerjahre aufgenommen worden sein, auf einer seiner ersten Reisen nach Moskau.

    Heinrich Kurella Mitte der Zwanzigerjahre.

    Heinrich Kurella einige Jahre später.
    Und es existiert ein weiteres Foto.
    Soll das wirklich derselbe Mann sein? Und ob. Nur magerer – und mit Brille. Mein Magen krampft sich zusammen, als ich sehe, wann es aufgenommen wurde.

    Jetzt finde ich ihn auch zwischen Mamas Fotos. Ich finde ein einziges Bild. Eines, das sie die ganze

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