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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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wurde) in Moskau und er zählte zu »den Versöhnlern«. In seiner obigen Autobiografie schreibt er, dass er mit der Partei in der Frage eigener Gewerkschaften der Partei mit der Partei
uneinig war, er war der Ansicht, dass die kommunistischen Arbeiter nicht aus den Gewerkschaften austreten und eigene gründen sollten – wie es die neue »ultralinke« Linie forderte.
    Mit dem Strategie- und Taktikwechsel der Komintern 1928 hatte er folglich Probleme. Und es gab auch anderes, das an ihm nagte. Im Frühjahr 1929 hatten er und Grete auf einem Fest bei Freunden in Berlin den rumänischen Dichter Panait Istrati kennengelernt, der damals ein berühmter Schriftsteller und bekannt für seine »Bewunderung für die Sowjetunion« war. Vielleicht wäre alles gut gegangen, wenn Heini sich nicht zu Istrati herübergelehnt hätte, um ihn nach dem Industrialisierungsprozess in Sowjetrussland zu fragen. Da verlor Istrati die Fassung, so Grete:

    »Bei diesen Worten sprang der Gast [d.h. Istrati] plötzlich auf, lief erregt zum Fenster, kam wieder an den Tisch zurück, zerrte nervös an dem gestrickten lila Seidenschal, den er statt Kragen und Krawatte um den Hals geschlungen trug, und begann in abgehackten Sätzen eine Erzählung, eigentlich eher eine Anklage, die sich aus lauter Fetzen von Ereignissen zusammensetzte. In seiner Erregung setzte der Berichterstatter so viele Dinge als bekannt voraus, daß es schwerhielt, ihm überhaupt zu folgen. Als uns aber seine Gedankengänge endlich aufgingen, wurden Heinrich Kurella und ich von Minute zu Minute starrer und ablehnender. Das, was man uns da ins Gesicht schrie, konnte nicht wahr sein.«

    Istrati kam in seiner wirren Anklage immer wieder darauf zurück, wie man mit einer ihm bekannten Familie umgesprungen wäre, die nach der Revolution in die Sowjetunion zurückgekehrt war. Die GPU hätte ihnen alles genommen – ihrer Wohnung, der Arbeit –, obwohl sie völlig unschuldig gewesen seien. Dann fiel das Wort »Trotzkisten«, und damit
wurde Grete, die diese Geschichte erzählt, alles klar: Bei ihm handelte es sich um einen Konterrevolutionär! Na, bitte! Es hatte gar kein Unrecht gegeben! Kurella fragte ihn dann – ironisch, denk' ich mir –, ob Istrati tatsächlich behaupten wolle, dass man in der Sowjetunion unschuldige Menschen festnahm.
    »Ja. Ja. Ja!« habe Istrati da ausgerufen, und dass das Regime von Fäulnis zerfressen sei, die nur noch Elend, Feigheit und Sklaverei hervorbringen könne. Und dass das Schicksal dieser Emigrantenfamilie nur ein Beispiel von vielen gewesen sei – dass es Hunderttausende dieser Art gäbe.
    »Etwas Seltsames hatte sich mit mir und wohl auch mit Kurella ereignet«, schreibt Grete. »Ein Teil meines Ichs wußte, daß hier die reine Wahrheit gesprochen wurde, aber der moralische Selbsterhaltungstrieb des politisch Gläubigen zwang mich dazu, ihn zum Lügner zu stempeln.«
    Schweigend brachen sie danach auf und verloren nie wieder auch nur ein Wort darüber.

    Sie ist schließlich nicht die Einzige, die im Nachhinein die »Suppe auslöffeln muss, die man sich eingebrockt hat«, seit die Sowjetunion ihren womöglich dramatischsten »taktischen« Schwenk vollzogen und am 24. August einen Nichtangriffspakt mit Hitlerdeutschland geschlossen hatte, um den schwedischen Kommunisten Edwin E. Persson anlässlich einer Versammlung in der Kungsgatan 84 in Stockholm im Herbst 1939 zu zitieren. Dabei habe es sich um so etwas wie mentale Akrobatenkunststücke gehandelt, die man beinahe unbewusst ausführte und die davon beseelt waren, dass » alles , was die Sowjetunion tat, richtig war« – um das Zitat Perssons in diesem schrecklichen, grauen Kriegsherbst 1939 zu vervollständigen. Arthur Koestler beschreibt das womöglich am treffendsten: Als hätte man den Gedanken nicht erlaubt, das Bewusstsein zu erreichen – als hätten sie statt
dessen eine Art Kellerleben geführt und so zu einer Art »Doppeldenk« geführt. Man durfte diese Kellerwesen nicht hinauslassen, weil sonst das eigene Ich in sich zusammengefallen wäre. Es war dieses Raster, das die Realität bis ins letzte Detail gestaltete, sodass alles, was dem zuwiderhandelte, regelrecht lebensbedrohlich war. Die Gehirnwäsche, die zum Sektenzustand führte, wurde in den 1920er Jahren in Berlin in der KPD -Zelle durchgeführt, zu der die Auserwählten, die Zugelassenen gehörten. Jeden Donnerstag, so Grete, habe man sich in einem Hinterzimmer einer Gastwirtschaft getroffen, wo man durch endlose Rituale

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