Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
Vom Netzwerk:
ermöglichen würden, war sie einem bitteren Irrtum aufgesessen – sie wurden nur anberaumt, um Hitlers Machtposition zu festigen.
    Sie streift durch Zürich, (allein?) und vollkommen abhängig von Heini, von der Hilfe ihrer Genossen – womöglich sitzt sie jetzt an einem Cafétisch und notiert punktuell ihr Leben – bis zu jenem Datum, den ersten Tagen im März. Und ihr beginnt zu dämmern, dass ihr »Ausflug« länger dauern könnte:

    » 1933 –? Suche jetzt systematischer u. sinnvoller. Begreife endl. d. Umwelt; man ist nicht allein!
     Emigration! Schluss, aber nicht mit der Unruhe. Veränderung geht weiter!«

    Verwegene Ausrufezeichen. Waren wohl nötig. Die Veränderungen gingen zweifelsohne weiter – Zürich sei eine schöne Stadt, das müsse sie zugeben, wenn auch teuer. Aber die
Menschen! Jetzt verstehe sie sehr gut, weshalb Emilie die deutschsprachigen Schweizer nicht hatte leiden können (aha, so war das also …). Und die Sprache … grässlich. »Ach, ich muss so an Euch, an Deutschland denken, erst jetzt begreift man, wie viel die Eltern einem bedeuten – es besteht das Risiko, dass ich schlichtweg sentimental werde –, und Leni, was macht Leni ? Und wann werden wir uns wiedersehen? Wer weiß, wie lange diese Trennung dauern wird und wann wir uns wiedersehen werden? Nun, an mir hängt es nicht, auch wenn es so aussehen mag. Aber wenn ich eine kleine Wohnung bekomme, vielleicht klappt es ja im April, dann könnte ich immerhin Essen kochen und den Haushalt bestellen, dann gibt es immer irgendetwas zu tun.«
    Stattdessen ziehen sie bei einer kommunistischen Familie ein, bei Familie Kownat in der Zurlindenstraße, und bekommen ein kleines, primitives Zimmer zugeteilt, sodass sie sich in der Küche waschen müssen, aber das Essen ist grandios – »Frau K. ist eine richtig ›gute jüdische Mama‹, die mit scharfem Blick darüber wacht, dass man tüchtig isst«. Sie nimmt zu – mehrere Pfund .

    Als ich diese Briefe, die sie regelmäßig, mindestens einmal im Monat schrieb und die ich bei jenem Besuch in Leipzig 1983 von Leni bekam, zum ersten Mal überflogen habe, fiel mir vor allem das auf: dieses ständige Rechenschaft darüber Ablegen, wie viel sie zugenommen hatte (nie abgenommen) – ja, und nun hätte sie ja fünf Pfund zugenommen, sodass sie bald schon 101 Pfund (50,5 kg, bei 1,66 m Größe) wiegen würde – und »so viel gewogen«, wie sie an Leni schreibt, »habe ich seit Jahren nicht«. Und es geht nicht darum, darauf hinzuweisen, dass die Pfunde purzeln – wie heute, nein, noch herrschte schließlich eine Art Schlechte-Zeiten-Mentalität, wo das Gewicht so viel hieß wie: Hier gibt es genug zu essen. Sorge dich nicht, Mama .
    Nein, hier herrschte – wenn nicht gerade die Sorge an ihr nagte, wann Heini denn von seinen vermutlich lebensgefährlichen Ausflügen nach Nazideutschland zurückkam – eine fast langweilige Tristesse: Kein Amüsement, kein unbeschwertes Nachtleben, sondern ruhige Abende mit viel Essen. Obwohl es ihr hier auch nicht an einem Bekanntenkreis fehlte – schon bald hat sie wieder Anschluss gefunden, ist von Menschen, Freunden und Bekannten umgeben, wie immer in ihrem Leben. In derselben Straße gegenüber wohnte die lebenslustige und gastfreundliche russisch-jüdische Familie Kirschbaum mitsamt ihren kommunistischen Töchtern Vera, Sophie, Anette, Helen und Mari. Bei Kirschbaums trafen sie sich – dort kamen sie zusammen, die Kommunisten, die politischen Flüchtlinge sammelten sich um den ausladenden Esszimmertisch oder trafen sich auf einer der unzähligen Gesellschaften. Oder sie gingen in das preiswerte italienische Restaurant »Internationale« in der Körbnerstraße.
    Rudi und die RUNA
    Dass sie eine Emigrantin ist, ist ein Geheimnis. Offiziell ist die Gräfin »zwecks Besuch und Erholung« hier, mit dem ausdrücklichen Verbot, politischen Aktivitäten nachzugehen, wie es in ihrer im Juli 1933 ausgestellten Aufenthaltsgenehmigung steht. Als politischer Flüchtling anerkannt zu werden war schwer – und für Juden, die kamen, weil sie verfolgt wurden, war es nahezu unmöglich. Als die Judenverfolgungen richtig einsetzten, verlangte die Schweizer Passkontrolle, dass in den Reisepass deutscher Juden ein großes, deutlich sichtbares J gestempelt war, damit sie wussten, mit wem sie es zu tun hatten – und damit sie nicht einreisten. Eine Methode, die Schweden mitentwickelt hatte.
    Endlich darf sie jetzt auch wie eine richtige Kommunistin kämpfen – d.h.

Weitere Kostenlose Bücher